Zwei Drittel nicht haltbar: Pharma-Hersteller machen wenig Hoffnung auf Herdenimmunität

Die Inzidenz in Deutschland sinkt und dank Impffortschritt wächst die Hoffnung, dass bald eine Herdenimmunität eintritt, die uns vor weiteren Corona-Wellen schützen könnte. Wann und ob das sein wird, lasse sich inzwischen jedoch kaum noch seriös berechnen, warnen Forscher.

Die Stimmung in Deutschland ist vielerorts euphorisch: Das Infektionsgeschehen ebbt ab und die bundesweite 7-Tage-Inzidenz liegt so niedrig wie seit Monaten nicht. Könnten wir in Deutschland inzwischen sogar schon eine beginnende Herdenimmunität sehen? Das fragen sich viele.

Immerhin sind im Land mittlerweile mehr als 26 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, über 48 Prozent haben eine erste Impfung erhalten. Plus: Über 3,7 Millionen Menschen haben nachweislich bereits eine Infektion durchgemacht.

„Wieviel Prozent geimpft sein müssen, damit in einer Bevölkerungsgruppe keine Ansteckungen oder nur wenige Ansteckungen stattfinden, wissen wir bei Corona gar nicht“, sagt dazu allerdings Rolf Hömke vom Verband forschender Arzneimittelhersteller (Vfa) gegenüber FOCUS Online. Denn wie hoch eine Durchimpfungsrate sein muss, ist bei jeder Krankheit verschieden.

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Durchimpfungsrate von 60 bis 70 Prozent hätte nur beim Wildtyp gereicht

So entsteht der Herdeneffekt bei den Masern beispielsweise erst bei einer Durchimpfungsrate von 95 Prozent, bei der Diphterie genügen 80 Prozent. „Beim Corona-Wildtyp im letzten Jahr haben Wissenschaftler berechnet, dass eine Durchimpfungsrate von 60 bis 70 Prozent ausreicht“, erklärt Hömke. „Da wir es aber nun vorwiegend mit deutlich ansteckenderen Mutationen zu tun haben, lässt sich diese Berechnung gar nicht mehr halten“, so der Biochemiker.

So hängt eine Herdenimmunität laut Hömke von vielen Faktoren ab. „Zum einen geht es darum, wie viele Menschen die Krankheit überstanden haben und immun sind und auch wie lange sie immun sind“, führt er aus. „Von zentraler Bedeutung ist aber nicht nur die Frage, wie viele geimpft sind, sondern auch wie zuverlässig der Impfstoff vor einer symptomatischen Erkrankung schützt und ob Geimpfte die Viren dennoch übertragen können“, so Hömke. „Das müsste man nun für jeden Impfstoff und jede Variante durchkalkulieren – deshalb ist es momentan völlig unmöglich, einen seriösen Wert für eine Impfrate zu ermitteln, bei der sich das Virus nicht mehr in der Bevölkerung ausbreiten kann.“

Wissenschaftler zweifeln an Konzept der Herdenimmunität

Dass dank der sinkenden Inzidenzen in Deutschland schon von einer beginnenden Herdenimmunität die Rede sein kann, verneint Hömke deshalb. „Wir wissen ja, vom letzten Jahr, dass das Infektionsgeschehen einen saisonalen Effekt hat und die Zahlen zum Sommer hin nach unten gehen, weil sich das Leben immer mehr nach draußen verlagert.“ Von einer Herdenimmunität könnte man erst sprechen, wenn beispielsweise in der kalten Jahreszeit, wenn das Leben ohne Einschränkungen drinnen stattfindet, das Infektionsgeschehen ebenfalls abebbt.

Ob eine Herdenimmunität im Falle von Corona überhaupt möglich ist, bezweifeln mittlerweile viele Wissenschaftler. So erklärte sogar der Chefentwickler des Corona-Impfstoffs des schwedisch-britischen Pharmakonzerns Astrazeneca, Andrew Pollard, jüngst in einem Interview mit der „Welt“, dass wir uns von der Idee der Herdenimmunität verabschieden sollten. „Wenn wir es mit einem Virus zu tun hätten, das sich nicht verändert, könnten Mathematiker den nötigen Bevölkerungsanteil ausrechnen“, erklärte der Immunologe. Das war allenfalls im letzten Jahr vor Auftreten der verschiedenen Virus-Varianten noch möglich.

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Wir könnten noch Jahre gegen immer neue Wellen kämpfen

Das deckt sich mit den Aussagen vieler anderer Forscher. So hält auch der unabhängige chinesisch-amerikanischen Datenwissenschaftler Youyang Gu eine Herdenimmunität im Falle von Corona für immer unwahrscheinlicher. Er benannte daher sein bekanntes Covid-19-Prognosemodell für die USA von „Pfad zur Herdenimmunität“ zu „Pfad zur Normalität“ um. Der vielerorts zögerliche Impfprozess, das Aufkommen neuer Varianten und der Umstand, dass Kinder (noch) nicht geimpft seien, mache sie immer unwahrscheinlicher.

Auch Epidemiologen teilen diese Meinung. „Wir entfernen uns von der Vorstellung, dass wir die Herdenimmunitätsschwelle erreichen und die Pandemie endgültig verschwinden wird“, sagte beispielsweise Lauren Ancel Meyers, Direktorin der Universität von Texas dem Wissenschaftsjournal „Nature“. Impfungen helfen zwar, ein Virus einzudämmen, aber da es immer wieder neue Varianten geben werde und die Immunität nach der Infektion irgendwann verschwinden könne, würden wir vermutlich noch Monate und Jahre immer wieder gegen neue Wellen kämpfen.

Impfung führt zu keiner sterilen Immunität

Ein Grund, der gegen eine Herdenimmunität spricht, ist der Umstand, dass die Corona-Impfstoffe bisher nicht zu einer sterilen Immunität führen. So sind Geimpfte zwar vor schweren Verläufen geschützt, aber können sich dennoch infizieren und unter Umständen auch das Virus weiterverbreiten.

Das RKI geht zwar nach jetziger Datenlage davon aus, dass die Impfung zu einer deutlichen Reduktion der Sars-Cov-2-Infektionen führen: Das Infektionsrisiko sei bei Vaxzevria von AstraZeneca bereits nach der 1. Dosis um 65 Prozent geringer und bei Comirnaty von BioNTech/Pfizer nach der 2. Dosis um zirka 90 Prozent. Ausgeschlossen ist es aber demnach dennoch nicht, das Geimpfte andere anstecken können. Selbst wenn Menschen, die trotz Impfung PCR-positiv seien, eine reduzierte Viruslast hätten, die auch weniger lange im Körper nachweisbar bleibt.

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  • Neue Varianten, die Antikörperschutz umgehen

    Ein weiterer Faktor, der das Erlangen eine Herdenimmunität schwierig macht, sind die neuen Varianten, die viel ansteckender sind als der Wildtyp. So sorgt beispielsweise die indische Variante, die nun Delta heißt, in England für steigende Infektionszahlen – obwohl dort bereits 40 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind. B.1.617.2 ist demnach bereits für über 60 Prozent der neuen Fälle verantwortlich.

    Einer neuen Studie zufolge, die jüngst im Magazin "Lancet" veröffentlicht wurde, erzeugt der Impfstoff von Biontech/Pfizer nur eine abgeschwächte Immunität gegen B.1.617.2. Selbst nach der zweiten Dosis konnte bei den Teilnehmern nur ein 5,8-fach geringerer Antikörper-Titer festgestellt werden als beim Wildtyp. Wie es sich mit dem Impfstoff von Astranzeneca verhält, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar.

    Immunität könnte nach natürlicher Infektion bis zu einem Jahr andauern

    Auch wie lange jemand immun ist, der eine natürliche Infektion durchgemacht, weiß man bisher noch nicht genau. Immunologen gehen aber anhand von Daten ehemals Infizierter davon aus, dass viele Genesene bis zu einem Jahr immun sein können. Obwohl häufig nach einer Infektion die Zahl der Antikörper schon nach ein paar Monaten stark sinkt – besonders, wenn es sich um einen milden Verlauf handelte.

    Zwar machen neue Studien auch Hoffnung, dass es eventuell auch eine lebenslange Immunität geben könnte, weil beispielsweise Immunzellen im Knochenmark jederzeit die Antikörperproduktion wieder ankurbeln könnten, aber sicher ist dies bisher nicht. Dazu bedarf es noch weiterer Studien.

    All diese Faktoren erschweren es also zu bestimmen, ob und wann eine Herdenimmunität eintreten könnte. "Wir können angesichts dieser vielen unbekannten Faktoren einfach nicht davon ausgehen, dass wir in absehbarer Zeit eine Herdenimmunität irgendwo erreichen“, erklärt Hömke daher. So hält er es auch für möglich, dass uns der Herbst wieder steigende Inzidenzen beschert.

    Wenn Herdenimmunität einsetzt, merken wir das

    „Es sind noch lange nicht alle geimpft und wir wissen auch nicht, ob sich alle in Deutschland und in anderen Ländern impfen lassen“, sagt der Forschungssprecher des Vfa. Auch sei noch nicht bekannt, wie lange der Impfschutz überhaupt anhält und wann eine Auffrischung fällig ist. „Daran müssen wir jetzt weiter arbeiten – genauso wie an Medikamenten, um schlimme Verläufe zu verhindern.“

    Dass es irgendwann zu einer Herdenimmunität kommen könnte, will Hömke aber dennoch nicht ausschließen. „Wenn das Infektionsgeschehen stark abebbt, wir aber einen saisonalen Effekt ausschließen können, dann werden wir das recht schnell merken.“

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