Biontech: Wegen Rahmenbedingungen ab nach England

Fachkräftemangel, zunehmende Bürokratie, langsame Prozesse: Das Mainzer Pharma-Vorzeigeunternehmen Biontech zieht es für die Krebsforschung nach England. Beobachter werten dies als weiteren Beleg für die Schwäche des Standortes Deutschland. Eine Entwicklung, die auch an Apotheken nicht spurlos vorbeigeht.  

Die Meldung der vergangenen Tage lässt aufhorchen: Biontech verlässt Deutschland für die Krebsforschung, so die Schlagzeilen. Angestoßen von der Bild-Zeitung berichteten mehrere Medien, dass Biontech die Krebsforschung nach Großbritannien auslagern wolle. Firmengründer Uğur Şahin und Özlem Türeci störten sich an der Langsamkeit der deutschen Bürokratie.

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Biontech selbst hatte Anfang Januar mitgeteilt, eine strategische Partnerschaft mit der Regierung des Vereinigten Königreichs eingehen zu wollen, um bis 2030 bis zu 10.000 Patienten mit personalisierten mRNA-Krebsimmuntherapien zu behandeln. Dazu sollen vor Ort klinische Studien durchgeführt werden und in Cambridge ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum aufgebaut werden. Biontech hatte während der Corona-Pandemie mit dem US-Unternehmen Pfizer einen wirksamen Impfstoff gegen das Virus hergestellt und ist seitdem weltbekannt.

In England, so die jüngsten Meldungen, gehe die Arznei-Entwicklung schneller, weil Behörden und Unternehmen eng zusammenarbeiten würden. „Biontech setzt bei der Forschung und Entwicklung auf die Stärken der jeweiligen Länder. Künftig wird es entscheidend sein, zeitgemäße und missions-getriebene Rahmenbedingungen in verschiedenen Bereichen zu schaffen“, wird Gründerin Özlem Türeci von der Bild zitiert. Das gelte „unter anderem für die Finanzierung von Forschung und ihrer schnelleren Translation in die Anwendung, die Förderung von Biotech-Ökosystemen in Europa sowie entsprechender Vorschriften und Richtlinien“, so Türeci.

ZEW: Verlust an Wettbewerbsfähigkeit 

Die Nachricht reiht sich ein in andere Meldungen, die Zweifel an der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland schüren. Nach einer aktuellen Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) verliert Deutschland im Wettbewerb mit 20 anderen führenden Wirtschaftsnationen weiter an Wettbewerbsfähigkeit. Im neuen „Länderindex Familienunternehmen“ belege die Bundesrepublik den 18. Platz unter den 21 Ländern. Im Jahr 2020 habe Deutschland noch auf dem 14. Rang gelegen.

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Wenig erbaulich sieht die Lage auch bei klinischen Studien aus, wo Deutschland zusehends an Boden verliert. Rangierte die Bundesrepublik 2016 bei der Anzahl der Studien, die von der Pharmaindustrie initiiert worden waren, weltweit noch auf Rang 2, war Deutschland 2020 bereits auf Platz 4 und 2021 auf Rang 6 abgerutscht. Die vom Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) vorgenommene Erhebung basiert auf Angaben des internationalen Studienregisters Clinicaltrials.gov. Spitzenreiter waren demnach im Jahr 2021 die USA mit 2749 Studien, China mit 1139 und Spanien mit 682 klinischen Testreihen.

Auch von der staatseigenen KfW Bank kamen jüngst mahnende Worte zum Zustand des Standortes Deutschland: „Das Fundament für weiteres Wohlstandswachstum bröckelt“, so eine Studie des Instituts. Grund: Den Unternehmen fehlen immer mehr Fachkräfte. „Das Thema Fachkräftemangel ist schon lange bekannt, und es hat im letzten Jahr nochmal eine neue Qualität erhalten“, sagte KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib. Sie warnte vor einer „einzigartigen Herausforderung“. Deutschland brauche unter anderem mehr Zuwanderung und bessere Ausbildung.

Fachkräftemangel in Apotheken 

Diese Entwicklung spüren auch die Apotheken seit Längerem. „Der Fachkräftemangel ist allgegenwärtig. Auch Approbierte, PTA und PKA scheinen auf dem Arbeitsmarkt immer seltener zur Verfügung zu stehen“, hieß es bereits vor neun Monaten auf DAZ online. Im September 2022 teilte die ABDA unter Verweis auf den Apothekenklimaindex 2022 mit: „Die Stimmung unter den selbständigen Apothekerinnen und Apothekern ist so schlecht wie noch nie.“ Ein Grund: Nachwuchssorgen. „Für drei von vier Leiterinnen und Leiter gehören Personal- und Nachwuchsprobleme zu den größten Defiziten im Versorgungsalltag. Angesichts eines Anstellungsstaus suchen sieben von zehn Apotheken (71,2 Prozent) händeringend nach qualifiziertem pharmazeutischem Personal.“

Biontech kauft englische KI-Firma 

Wenig Zuversicht in die Fähigkeiten des Standortes Deutschland vermittelt auch eine weitere Nachricht von Biontech. So kündigten die Mainzer kürzlich die Übernahme des britischen Unternehmens InstaDeep für mehr als 400 Millionen Euro an. InstaDeep entwickelt im Kerngeschäft künstliche Intelligenz (KI): Programme, die eigenständig Lösungen für Probleme finden, an denen ein gewöhnlicher Computer scheitert. Es ist die größte Übernahme in der noch jungen Geschichte von Biontech.

Am 2. Februar will sich Bundeskanzler Scholz bei Biontech selbst ein Bild machen. Wie das Unternehmen mitteilt, wird der Kanzler den neu fertiggestellten Bau der ersten unternehmenseigenen Plasmid-DNA-Produktion am Standort Marburg besuchen. Möglicherweise werden Şahin und Türeci bei der Gelegenheit Scholz auch auf die Herausforderungen des Standortes Deutschland ansprechen.


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