Arzneimittel-Engpässe: „Pharmaindustrie nicht so billig davonkommen lassen“

Am vergangenen Mittwoch stand das  ALBVVG auf der Tagesordnung des Bundestags. Und das Gesetzesvorhaben sorgt für Diskussionsstoff – auch jenseits der Politik. Das wurde am heutigen Donnerstag bei einer Online-Diskussion deutlich. Dort wurde auch die Rolle der Pharmaindustrie in den Fokus gerückt. Zudem waren sich alle einig, dass man das Lieferengpassproblem nicht auf nationaler Ebene lösen kann.

Am vergangenen Mittwoch stand die erste Lesung des Lieferengpass-Gesetzes auf der Tagesordnung des Bundestags (Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz, kurz ALBVVG). Kurz zuvor machte die Fraktion Die Linke noch deutlich, dass sich mit dem aktuell vorliegenden Entwurf des ALBVVG die Lieferengpässe bei Arzneimitteln aus ihrer Sicht nicht wirksam verhindern lassen werden. Auch andere Parteien stellten bei der Beratung am Mittwochabend schließlich klar, dass am ABLBVVG noch Nachbesserungsbedarf besteht. Doch wie sehen das eigentlich Expert:innen außerhalb der Politik? Wie kann eine bessere Versorgung mit Arzneimitteln künftig gelingen?

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Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie, Dr. Torsten Hoppe-Tichy, Leiter der Apotheke des Universitätsklinikums in Heidelberg, und David Francas, Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse an der Hochschule Worms, diskutierten am heutigen Donnerstag bei einem Presse-Briefing des „Science Media Center“ online darüber, wie eine bessere Versorgung mit Arzneimitteln gelingen kann. Und auch sie scheinen sich einig zu sein: Die aktuellen, kurzfristigen und nationalen Schritte werden das Arzneimittel-Lieferengpass-Problem nicht aus der Welt schaffen.

Wie leer sind die Regale?

Auf die Frage, wie leer die Regale in den Klinikapotheken derzeit sind, machte Krankenhausapotheker Hoppe-Tichy zunächst deutlich, dass Apotheker:innen mit ihrem Lieferengpassmanagement seit Jahren Schlimmeres verhindern. So seien die Regale in seiner Krankenhausapotheke in Heidelberg derzeit sogar eher voller als noch vor zehn Jahren. Denn anders als im ambulanten Bereich kann man sich in der Krankenhausapotheke auf eine begrenzte Anzahl an Arzneimitteln einigen, die man an Lager legt und könne so einen Algorithmus etablieren, um bei sensiblen Arzneimitteln Engpässen zuvorzukommen. Dadurch habe sich allerdings auch der Lagerwert im Krankenhaus in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt.

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Dennoch seien derzeit auch in der Krankenhausapotheke die Engpässe spürbar, wobei man immer bedenken müsse, dass die Patient:innen aus dem Krankenhaus früher oder später in den ambulanten Bereich entlassen werden, wo die Weiterbehandlung ebenso gesichert sein muss. Dadurch, dass man sich in der Krankenhausapotheke immer wieder frage, welche Arzneimittel unverzichtbar sind, welche austauschbar, importierbar oder auch selbst herstellbar und gute Beziehungen zu den Lieferanten pflege, könnten einige Engpässe abgemildert werden. Allerdings machte Hoppe-Tichy an dieser Stelle deutlich, beispielsweise beim Import von Wirkstoffen und Arzneimitteln auch auf ethische Probleme zu stoßen: Ziel sei es schließlich nicht, andere Märkte leerzukaufen.

„Lieferengpässe als nationales Problem zu begreifen, ist grundsätzlich falsch“

Francas erläuterte nochmals, warum sich die eine Ursache für die aktuellen Engpässe nicht so einfach ausmachen – und damit auch nicht beheben – lasse. Was aus seiner Sicht fehlt, ist ein Stresstest für die Lieferketten. Damit meint er, dass man systematisch Daten dazu erheben müsse, wie unsere Lieferketten genau aussehen. In den USA geschehe das bereits, in Deutschland nicht. Ein Frühwarnsystem, wie es aktuell auch politisch diskutiert wird, sei zwar datenbasiert und, was den Gewinn an Reaktionszeit angeht, hilfreich – verhindere am Ende aber keine Engpässe. Stresstests könnten hingegen dabei helfen, eine echte Strategie zur Behebung der Engpässe – aber auch eine Sicherheits- und Standort-Strategie – zu entwickeln. Das fehle in Deutschland derzeit vollkommen. 

Was die Standort-Strategie betrifft, warnte er unter anderem, bei Biosimilars nicht den gleichen Fehler zu begehen, wie vor einigen Jahren mit den Generika. Es gehe nicht nur darum, wie häufig gefordert, Produktion wieder nach Europa zurückzuholen, sondern auch darum, weitere Abwanderung (etwa bei Biosimilars) zu verhindern. Dabei ermutigte Francas dazu, die Lieferengpassproblematik transnational zu betrachten. Sie als nationales Problem zu begreifen, sei grundsätzlich falsch. Eine „Diversifizierung der Lieferketten“, wie es häufig heißt, sei zwar grundsätzlich nicht falsch, bei der aktuellen Marktstruktur aber schlichtweg nicht umsetzbar, wenn beispielsweise zwei Drittel der Wirkstoffe aus Asien kommen.

Francas machte zudem deutlich, dass alle auf Informationen vonseiten der Arzneimittel-Hersteller angewiesen sind.

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Auch Holzgrabe hält den Gedanken, die Produktion einfach so nach Deutschland zurückholen zu können, für naiv. Man dürfe schließlich nicht nur an die Wirkstoffe, sondern müsse auch an die Vorstufen und Hilfsstoffe denken. Sie sei unbedingt dafür, gewisse Dinge wieder zurückzuholen und mehr dafür zu bezahlen. „Aber wir werden niemals unabhängig werden“, betonte auch sie den internationalen Charakter der Problematik. Sie unterstrich ebenfalls, dass selbst die Produktion, die es noch in Deutschland gibt, nicht gesichert sei. Als Beispiel nannte sie die Antibiotika-Produktion in Österreich. Die völlige Trennung von forschender Pharmaindustrie und Generika-Industrie habe zunehmend niedrige Preise in der Arzneimittelindustrie forciert. Man müsse deshalb auch das Preissystem angehen, doch auch das könnten einzelne Länder nicht allein.

„Ich würde nicht alles am Preis festmachen wollen“

Krankenhausapotheker Hoppe-Tichy schilderte seinen persönlichen Eindruck, dass die Pharmaindustrie ihren ursprünglich mischkalkulativen Ansatz über die Jahre verlassen habe. Denn eigentlich könnte sie, was den Gewinn angeht, weniger lohnende Arzneimittel mit hochpreisigen (neuen) Arzneimitteln gegenrechnen, wenn sie auch einen ethischen Anspruch habe. Es sei zwar durchaus fraglich, wenn eine Tagesration an Antibiotika günstiger sei als das Essen in der Kantine. Doch die Kosten der Lieferengpässe würde am Ende nicht die Pharmaindustrie, sondern in seinem Fall die Krankenhausapotheke tragen – etwa mit einem hohen Lagerwert. „Ich würde nicht alles am Preis festmachen“, betonte er deshalb und forderte absolute Transparenz bei den Kosten der Pharmaindustrie. Er wolle die Pharmaindustrie „nicht so billig davonkommen lassen“, sagte er. Holzgrabe pflichtete ihm bei und nannte das Hepatitis-C-Medikament Sofosbuvir als Beispiel für eine Preisgestaltung, welche die Pharmaindustrie in keinem guten Licht erscheinen lässt. 

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Hoppe-Tichy stellte aber nicht nur Forderungen an die Pharmaindustrie, sondern forderte auch die Gesundheitsberufe auf, sich an die eigene Nase zu fassen. So müssten sich beispielsweise Ärzt:innen hinterfragen, wenn sie Diabetes-Arzneimittel im Off-Label-Use verordnen. Und Einkaufsverbünde von Krankenhäusern sollten beim Bezug von Generika auf mehr als einen Anbieter setzen. Schließlich waren sich alle einig, dass es keine einzelne einfach Lösung für das vielschichtige Problem geben wird.


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