Schulungsmaterial zu Valproat – gut verständlich, aber kaum bekannt

Aus Ihren Kassensystemen kennen Sie wahrscheinlich das Blaue-Hand-Logo – aber haben Sie schon einmal draufgeklickt und sich das hinterlegte Schulungsmaterial durchgelesen? Dieses richtet sich zwar meist an ärztliches Personal und Patienten, für Apothekerinnen ist es aber auch interessant – immerhin wurde es behördlich angeordnet. Die DAZ stellt Ihnen deshalb in dieser Serie eine Auswahl der „blauen Hände“ vor – heute die zu Valproat. Denn wie eine Untersuchung von Embryotox zeigt, bestehen sowohl in der Arztpraxis als auch bei den Patientinnen große Wissenslücken.  

Auf den Websites der Bundesoberbehörden BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) und PEI (Paul-Ehrlich-Institut) findet man eine Übersicht über Wirkstoffe und Warenzeichen, für die behördlich Schulungsmaterialien angeordnet worden sind. Seit 2016 wird dieses Material mit dem Blaue-Hand-Logo gekennzeichnet. „Allein im Zuständigkeitsbereich des BfArM wurde bis heute für ca. elf Prozent der aktuell verkehrsfähigen Wirkstoffe (ohne Homöopathika, Anthroposophika und Phytopharmaka) Schulungsmaterial angeordnet“, war in der September-Ausgabe 2022 des „Bulletin zur Arzneimittelsicherheit“ zu lesen. Doch solchem behördlich genehmigten Schulungsmaterial kommt offenbar nicht die benötigte Aufmerksamkeit zu, wie eine Untersuchung von Embryotox zum Antiepileptikum Valproat und anderen teratogenen Arzneimitteln zeigt.

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Valproat ist teratogen – das weiß eigentlich jeder Arzt und Apotheker. Im Falle von Valproat gibt es als behördlich genehmigtes Schulungsmaterial beispielsweise einen Leitfaden für medizinische Fachkräfte, ein Formular zur Risikoaufklärung für Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter, die der verordnende Arzt jährlich ausfüllen soll, sowie einen Patientenleitfaden und eine Patientenkarte. Letztere liegt mittlerweile jeder Packung bei und weist laienverständlich auf schwerwiegende Schäden beim ungeborenen Kind hin. Zudem werden Patientinnen zu einer wirksamen Verhütung aufgefordert und auch bei Kinderwunsch sollen sie erst mit dem Arzt sprechen, ehe sie die Verhütung beenden. 

In der Theorie kann also gar nichts mehr schiefgehen. Wie es in der Praxis aussieht, hat ein Projekt des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie (PVZ Embryotox) untersucht. 

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Strukturierte Interviews sollten dabei nicht nur den Kenntnisstand von Ärzten, Ärztinnen und Patientinnen zu ausgewählten teratogenen Arzneistoffen überprüfen, sondern insbesondere herausfinden, wie bekannt das Schulungsmaterial und das Blaue-Hand-Logo sind. Dafür wurden vom 01.01.2018 bis zum 31.12.2021 insgesamt 375 Patientinnen und 172 behandelnde Ärzte und Ärztinnen befragt, die bestimmte Arzneistoffe anwenden. Für das Projekt unterschieden die Wissenschaftler drei Gruppen:

  • Gruppe A: teratogene Arzneistoffe mit schwangerschaftsbezogenem Schulungsmaterial (zum Beispiel Valproat, Fingolimod, Isotretinoin)
  • Gruppe B: teratogene Arzneistoffe mit Schulungsmaterial ohne Schwangerschaftsbezug (Methotrexat, Tretinoin)
  • Gruppe C: nicht-teratogene Arzneistoffe mit Schulungsmaterial ebenfalls ohne Schwangerschaftsbezug (zum Beispiel Etanercept)

Schulungsunterlagen nicht nur bei Valproat kaum bekannt

Von den 172 Ärzten und Ärztinnen kannte nur rund jeder Dritte das offizielle Schulungsmaterial, das mit dem Blauen-Hand-Logo versehen ist. Interessanterweise gaben sogar 31,4 Prozent an, dass sie das schwangerschaftsbezogene Informationsmaterial für Methotrexat (Gruppe B) kennen – dabei gibt es das gar nicht! Tatsächlich beziehen sich die Blaue-Hand-Unterlagen nämlich auf das einmal wöchentliche Einnahmeintervall von Methotrexat, nicht jedoch auf das teratogene Risiko. Auch unter den Patientinnen der Medikamentengruppe B und C glaubten 7,8 beziehungsweise 7,5 Prozent, dass sie Materialien zum Risiko für Fehlbildungen kennen, obwohl es diese gar nicht gibt. 

Von den Patientinnen, die tatsächlich teratogene Arzneistoffe der Gruppe A mit angeordnetem Schulungsmaterial einnahmen, kannten leider nur 20,9 Prozent die Schulungsunterlagen zum Risiko für Fehlbildungen unter der Behandlung mit dem Medikament. Immerhin: Diejenigen, die die Unterlagen kannten, fanden sie fast immer gut verständlich.

Unkenntnis schützt nicht vor Schwangerschaft

Von den befragten Patientinnen wurde nur jede zweite vor der Behandlung nach einem Schwangerschaftstest gefragt. In der Studie gaben insgesamt 71,5 Prozent der Patientinnen an, ungeplant schwanger geworden zu sein. Unter der Personengruppe der Medikamente A war der Anteil mit 83,7 Prozent sogar noch höher. Die Ergebnisse wurden in der September-Ausgabe 2022 des „Bulletin zur Arzneimittelsicherheit“ veröffentlicht.

Kurzum: Es gibt massiven Aufklärungsbedarf! Insbesondere bei teratogenen Arzneistoffen sind die Folgen mitunter gravierend und Unkenntnis besonders tragisch. Doch die Schulungsmaterialien können nur dann als Instrument der Risikominimierung wirken, wenn sie bekannt sind und genutzt werden.

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Auch Apotheker können und sollen die Therapiesicherheit bei der Abgabe der Arzneimittel unterstützen und gezielt auf das Schulungsmaterial verweisen. Um Sie in der Beratung in der Offizin dabei zu unterstützen, stellt die DAZ Ihnen in der Blaue-Hand-Serie ausgewählte Schulungsmaterialien und Arzneistoffe vor. Helfen Sie mit, die Blaue Hand bekannter zu machen! In Teil 2 geht es um die Arzneimittelgruppe der Retinoide.

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