Rettungseinsatz: Bitte nicht gaffen!



Gaffer versperren Rettungskräften regelmäßig den Weg und machen unerlaubt Bilder von Unfällen. Ob neue, strengere Gesetze helfen, bleibt fraglich

Schädliche Neugier: Wenn sie durch Gaffer behindert werden, kommen Rettungskräfte eventuell zu spät

November 2017. Ein Lastwagen fährt auf der A3 in Nordrhein-­Westfalen in ein Stauende. Ein Pkw wird unter einen Sattelschlepper geschoben, vier weitere Fahrzeuge verkeilen sich, zwei Menschen sterben. Ein Unfall, der nicht nur Entsetzen hervorruft, sondern auch Schaulust: Auf der Gegen­­fahrbahn verlangsamen Fahrer ihr Tempo, etliche filmen die Rettungskräfte mit dem Handy. Doch diese filmen zurück: 92 Schaulustige können die Beamten so später identifizieren.

Bisher wird Gaffen selten bestraft

Bislang kommen Gaffer oft ungestraft davon. 2,6 Millionen Verkehrsunfälle gab es 2017 in Deutschland, rund 390 000 Mal wurden dabei Menschen verletzt. Zwar beklagen Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizei immer wieder, dass die Behinderung durch Schaulustige zunehme. Doch aktuelle Zahlen fehlen. Nach einer Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) sind bei Unfällen bis zu 26 Unbeteiligte anwesend, bei Massenkarambolagen mehr als 100. Doch die Zahlen sind fast 30 Jahre alt.

Stefan Pfeiffer, Leiter der Verkehrspolizeiinspektion im mittelfränkischen Feucht und Mitglied der Deutschen Polizeigewerkschaft, weiß jedoch aus eigener Erfahrung, dass Gaffer eher die Regel sind als die Ausnahme. "Bei Unfällen auf der Autobahn erleben wir fast immer, dass andere Fahrer abbremsen, um zu schauen oder mit dem Handy den Einsatzort ­zu filmen." Dabei gefährden sie andere und sich selbst. Unfälle auf der Gegenfahrbahn sind die Folge.

Smartphones verschärfen das Problem

Aus Sicht der Psychologie ist die Lust am Schauen zwar menschlich, schließlich wurde Neugier uns allen angeboren. Im Straßenverkehr wird sie jedoch schnell zu einem Problem, sagt die Verkehrspsychologin des ADAC, Nina Wahn: "Wenn die Gier in der Neugier überhandnimmt, kann die Situation nicht mehr bewusst eingeschätzt werden." Ein Gefühl für angemessenes Verhalten sei dann nicht mehr vorhanden.

Smartphones und soziale Medien haben das Problem zwar nicht geschaffen, aber verschärft. Davon ist auch die ­Politik überzeugt. "Gaffer nehmen ­Fotos und Videos auf, um selbst zum Geschichtenerzähler werden zu können – auf Kosten und zulasten der Opfer", sagt ein Sprecher des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen.

Gesetzentwurf gegen das Behindern von Rettungseinsätzen

Um den Helfern zu helfen, wurden gleich mehrere Gesetzesänderungen beschlossen. Etwa eine Reform des sogenannten Samariter-Paragrafen, der unterlassene Hilfeleistung unter Strafe stellt. Danach droht nun auch denjenigen eine Strafe, die bei einem Unfall andere daran hindern, Hilfe zu leisten – zum Beispiel Autofahrern, die keine Rettungsgasse bilden.

Gezielt gegen Gaffer richtet sich ein weiterer Gesetzesentwurf, der dieses Jahr auf den Weg gebracht wurde. Er soll das Fotografieren und Filmen von Todesopfern bei Unfällen unter Strafe stellen. Bis zu zwei Jahre Gefängnis oder Geldstrafen könnten in Zukunft demjenigen drohen, der Aufnahmen von Verunglückten macht oder das versucht. Die Neuregelung stößt auf Zustimmung. Bisher konnten Gaffer lediglich dafür belangt werden, dass sie am Steuer ihr Handy benutzen. "Da haben wir derzeit noch eine Gesetzeslücke", bestätigt der ADAC-Chefjurist Dr. Markus Schäpe. "Das neue Gesetz hätte da durchaus Signalwirkung."

Ob die neuen Regelungen auch die gewünschte Wirkung entfalten, muss sich jedoch erst zeigen. Denn eine konsequente Umsetzung erfordert mehr Personal. "Bei einem schweren Unfall geht es ja um Rettung und Bergung – da kann man nicht immer ­jemanden abstellen, um Personalien aufzunehmen", sagt Polizist Pfeiffer.

Gegenreaktionen der Retter

Manche Retter machen ihrem Unmut auch in den sozialen Medien Luft. Als vor zwei Jahren Schaulustige in der Stadt Hagen Handybilder von einem schwer verletzten Mädchen machten, schrieb die zuständige Polizei bei Facebook: "Schämt euch, ihr Gaffer vom Hauptbahnhof!" Und: "Wir haben im Einsatz echt was Besseres zu tun, als uns auch noch um euch zu kümmern. Lasst zukünftig die Smartphones in der Tasche und geht einfach weiter."

Von breit angelegter Information versprechen sich viele Rettungs- und Einsatzkräfte Erfolge. "Aus unserer Sicht kommt der Sensibilisierung und Aufklärung der Öffentlichkeit eine große Rolle zu", sagt etwa Leander Strate, Fachbereichsleiter Rettungsdienst bei der Johanniter-Unfall-Hilfe. Kampagnen wie "Helfen statt gaffen" sollen dazu beitragen. Die Freiwillige Feuerwehr Osnabrück drehte gemeinsam mit zwei Nachwuchsfilmern einen verstörenden Spot zum Thema Schaulust und Gaffen, der im Internet millionenfach angesehen wurde.

Schutzwände gegen den Voyeurismus

Einige Bundesländer nutzen Sichtschutz- oder sogenannte "Gaffer-Wände", um Unfälle für Schaulustige un­interessant zu machen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel sind die fast zwei Meter hohen und bis zu 100 Meter langen Konstruktionen schon seit drei Jahren im Einsatz. Mit Erfolg: Nach Auskunft der Autobahnmeistereien ging die Zahl der durch Neugier verursachten Auffahrunfälle deutlich zurück. In Brandenburg oder Bayern sollen Neugierige damit ebenfalls auf Abstand gehalten werden.

Dass auch die Schutzwände selbst am Unfallort viele Blicke auf sich ziehen, brachte die Freiwillige Feuerwehr aus Wunstorf in Niedersachsen auf eine Idee. Sie bedruckte eine Sichtschutzplane mit einem simplen Appell, den sich mittlerweile viele Feuerwehren in Deutschland abgeguckt haben. "Nicht gaffen! Mitglied werden!"

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