Mehr Zeit für die Seele

"Sie macht jetzt einen Tag Pause und hat erst mal die Füße hochgelegt", sagt Sylvia Wetzels Sekretärin am Telefon. Wann hört man schon so einen Satz? An einem Mittwochvormittag! Hat da nicht jedes wertvolle Mitglied der Gesellschaft gefälligst zu arbeiten, produktiv und natür­lich erreichbar zu sein?

Wer da nicht mitmacht, den umgibt sogleich ein Hauch von Rebellion. Und wer es trotzdem versucht, wird womöglich von Schuldgefühlen geplagt. Jetzt eine Auszeit nehmen, gar nichts tun oder etwas Schönes, weil mein Körper und meine Seele es brauchen? Sollte ich nicht? Müsste ich nicht? Was könnten dann die anderen denken?

Dem Bedürfnis nach Ruhe nachgehen

Sylvia Wetzel gehört zu den Menschen, die solche kritischen Stimmen in sich selbst zum Schweigen gebracht haben. Die Meditationslehrerin unterrichtet gestresste Frauen und Männer in Entspannung, schreibt darüber, wie wichtig zweckfreie Zeit ist. Und sie predigt nicht nur Muße, sie lebt sie auch.

E-Mails beantwortet sie einmal in der Woche, ihr Handy schaltet sie nur zweimal am Tag ein, und wenn sie gerade einen intensiven Kurs geleitet hat – so wie jetzt –, macht sie nicht einfach stur weiter. Sie geht ihrem Bedürfnis nach Ruhe nach. "Muße ist der beste Schutz vor Burn-out", sagt Sylvia Wetzel.

Wie geht es mir eigentlich?

Der altmodisch klingende Begriff ­"Muße" meint mehr als Freizeit und Faulsein. Jeder definiert ihn ein bisschen anders – aber am Ende bleibt die Vorstellung einer Zeit, eines Raums, der frei ist von jeglichem Müssen. Kein Leis­tungsdruck, kein Zeitdruck. Einfach sein.

Vielleicht aus dem Fenster schauen, über sich selbst nachdenken, über das Leben. Sich fragen: Wie geht es mir eigentlich? Vielleicht etwas tun, das Freude bereitet. Singen, lesen, Karten spielen. Vielleicht ein Bild malen oder eine Vase töpfern.

Kreativität aus der Langeweile

Vielleicht stellt sich dabei Langeweile ein. Vielleicht schießt einem aber auch plötzlich die Lösung für ein vertracktes Problem in den Kopf oder eine neue Idee. Muße bringt uns auf Gedanken, die den Horizont unserer alltäglichen To-do-Listen überschreiten. Wir fühlen uns wohl, als ganzer Mensch, abseits von Pflicht, Effizienz und Rolle.

Vor allem aber kann Muße auch ein Bollwerk sein gegen die negativen Folgen von Stress. Stehen wir unter Anspannung, ist in unserem vegetativen Nervensystem der Sympathikus aktiviert. Er versetzt uns in ständige Alarmbereitschaft. Das Herz schlägt schneller, das Verdauungssystem dagegen arbeitet langsamer.

Arbeitstiere horchen auf

Entspannen wir, gelangen wir in den Parasympathikus-Modus. Herzfrequenz und Blutdruck sinken, die Verdauung kommt in Schwung, wir regenerieren. "Wer immer im Sympathikus-Modus bleibt, ruiniert seine Gesundheit", sagt Wetzel. Bei diesem Argument würden in ihren Kursen auch die größten Arbeitstiere und stursten Auszeit-Verweigerer aufhorchen.

Überzeugungsarbeit für Muße leisten, das war viele Jahrhunderte überhaupt nicht notwendig. "Bis in die Neuzeit war Muße grundsätzlich höher angesehen als Arbeit", sagt der Germanist und Philosoph Manfred Koch. In der Antike etwa war Arbeit, um sich zu ernähren und zu überleben, nur etwas für Sklaven. Sich selbst die Hände schmutzig machen? Das war nichts für angesehene Bürger. Trotzdem war Muße nicht Trägheit, sondern vielmehr ein schöpferischer Freiraum für höhere Dinge – Künste, Sport, Politik, Philosophie. Sokrates schrieb: "Muße ist der schönste Besitz von allen."

Klöster führen Stechuhr ein

Mit dem Aufkommen des Christentums wurde Arbeit nach und nach aufgewertet. Jesus Christus, selbst ein Arbeitsloser auf dem Weg zu tieferer Erkenntnis, ruft seine Jünger noch dazu auf, sich ausschließlich auf geist­­liche Fragen zu konzentrieren. Aber dann sind es die Klöster, die im Mittelalter das streng nach der Uhr getaktete Leben ein­führen – die Basis unserer heutigen Arbeitsdisziplin.

Die Reformation bringt 1517 die Wende: Martin Luther verurteilt den Müßiggang "als aller Laster Anfang". Er will Feiertage verbieten und Bettler vertreiben. Der Calvinismus verstärkt die Anti-Muße-Tendenz noch. "Der Gedanke an Überbietung, Leistung und Konkurrenz gewinnt damit an Bedeutung", sagt Koch. Um 1800 ­setzen sich Fleiß und Sparsamkeit als Kar­­dinaltugenden durch. Für die Indus­trialisierung braucht es brave Fabrik-­­Angestellte, die feste Stundenpläne einhalten und möglichst nie fehlen.

Sehnsucht nach Müßiggang

Ergebnisoffenes Nichtstun wird nun in der Realität zutiefst verurteilt, ­­Widerstand dagegen regt sich in der Literatur. Die Autoren der Romantik verklären im 18. und 19. Jahrhundert den Müßiggang. In ihren Werken tummeln sich Faulpelze, Künstler, Wanderer und Mittagsschläfer.

"O Müßiggang, Müßiggang! Du bist die Lebensluft der Unschuld und der Begeisterung", schreibt Friedrich Schlegel. Joseph von Eichendorffs berühmter "Taugenichts" zieht mit einer Gitarre durch den Wald und singt Lieder. "All das zeigt die geheime Sehnsucht nach dem Ausbruch aus der bürger­lichen Arbeitswelt", sagt Literatur­wissenschaftler Koch.

Joggen steigert das Ansehen

Inzwischen wird Leistung und Produktivität so viel Wert beigemessen, dass es dem Einzelnen schwerfällt, aus diesem System auszusteigen – und sei es nur für wenige Stunden. Es braucht Mut, das Handy wegzulegen oder einen Strandurlaub zu machen ohne Sightseeing und Sport.

"Unsere Gesellschaft belohnt Aktivität. Wenn ich jeden Tage jogge, steigert das mein Ansehen. Das passiert nicht, wenn ich mich jeden Tag in die Badewanne lege", erklärt Karlheinz Geißler, Wirtschaftspädagoge und Zeitforscher aus München. Das ständig piepsende Smartphone ist aber ein zuverlässiger Muße-Verhinderer. "Wir haben keine Pausen mehr, keine Langsamkeit, keine Zwischenzeiten, eine Sache löst die andere direkt ab", sagt Geißler. Den selbstverständ­lichen Anspruch auf Muße gebe es heute nicht mehr, sagt auch Medi­tationslehrerin Wetzel.

Der Stress mit der Entspannung

Manchmal wird in unserem modernen Leben sogar die Muße selbst zur weiteren Anforderung. "Die Leute ­machen etwa einen Meditationskurs nach der Arbeit, damit sie mit dem Stress auf der Arbeit besser zurechtkommen – aber empfinden den Kurs dann nur als weitere Tätigkeit, die abgehakt werden muss", meint der Ethno­loge Gregor Dobler.

Er ist in Freiburg im Sonderforschungsbereich Muße tätig und will mit seinen Kollegen he­­rausfinden: Bringen die vielen Angebote zu Entspannung und Entschleunigung den Teilnehmern wirklich etwas? Oder ist das alles lediglich ein Symptom für den aktuellen Muße-Mangel?

Keine Muße im Großraumbüro

Oft verschlingt die Arbeit so viel Zeit, dass für Muße kaum noch etwas bleibt. Wir wollen Geld, Sicherheit, Ansehen. Dafür stecken wir im Hamsterrad. Wer mehr Zeit und Freiheit will, muss ein Stück Sicherheit aufgeben.

Marlene Graßl hat es gewagt. Ihren Beruf als Marketingfachfrau gab sie auf, um herauszufinden, was besser zu ihr passt. Auf diesem Weg half ihr ein Verein, bei dem sich Menschen für ein bedingungsloses Grundeinkommen bewerben können. Graßl hat das getan – und 1000 Euro pro Monat erhalten.
Sie reiste, lernte Feng-Shui, beschäftigte sich mit Sachen, für die sie vorher keine Zeit hatte, und macht sich nun als Mentaltrainerin selbstständig. Im Großraumbüro will sie nie wieder arbeiten. Die 33-Jährige sagt: "Ich bin flexibler im Denken geworden, freier, jetzt mache ich mein Ding."

Bei der Arbeit den eigenen Rhythmus finden

Diese Empfindung ist für Forscher Dobler zentral. "Mehr Muße beim Arbeiten kann Stress wirksamer bekämpfen als die Suche nach Muße in der Freizeit." Aber wie funktioniert das? Wichtig dafür ist, den Arbeitsprozess selbstständig im eigenen Rhythmus gestalten und sich hinterher über ein Ergebnis freuen zu können.

In der Berufsrealität müssen viele Menschen stattdessen kleintei­lige, sich wiederholende Arbeitsschritte ausführen und werden dabei noch häufig von neu eintreffenden E-Mails und Anrufen unterbrochen – auf die sie umgehend reagieren sollen.

Tipps zur Entschleunigung

Trotzdem: Wir können selbst viel für ausreichend Muße tun. Sylvia Wetzel zum Beispiel rät zu Tätigkeiten, bei denen es wenig Sinn macht, sie zu beschleunigen. Etwa sich mit Freunden in der Sauna treffen, im Chor singen, Spaziergänge ohne konkretes Ziel. Die Meditationstrainerin selbst taucht gern in andere Welten ein, vertieft sich in Romane.

Und woher die Zeit nehmen für all diese entspannenden Dinge? Wissenschaftler Geißler empfiehlt: "Über­legen Sie sich ein Kriterium dafür, wann Sie genug Geld haben. Ihre ­Lebenszeit ist begrenzt."

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