Psychotherapeuten wehren sich gegen Spahns Patientenkontrolle

Menschen mit psychischen Problemen müssen in Deutschland lange auf einen Therapieplatz warten, im Schnitt fast fünf Monate. Gerade auf dem Land, wo es häufig deutlich weniger niedergelassene Psychotherapeuten gibt, kann die Wartezeit sogar deutlich länger sein. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Versorgung verbessern.

Jens Spahn

Seine Idee: Künftig sollen speziell geschulte Ärzte und Psychotherapeuten Patienten mit psychischen Problemen voruntersuchen und entscheiden, wer welche Therapie bekommt. Das geht aus dem Gesetzentwurf zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) hervor, mit dem sich der Bundestag am Freitag in erster Lesung beschäftigen soll.

Das Problem: Psychologen, Ärzte und Psychotherapeuten sind wenig begeistert von Spahns Plänen. Im Gegenteil, es regt sich heftiger Widerstand. Fast 150.000 Menschen haben eine Petition unterzeichnet, die die geplante Neuerung kippen soll. Auch der Bundesrat lehnt das Vorhaben des Gesundheitsministers ab. Spahn selbst zeigt sich mittlerweile kompromissbereit. “Ich schließe nicht aus, dass wir andere Regelungen finden”, sagte Spahn am Mittwoch im ARD-Morgenmagazin.

Die Psychotherapeutin Ariadne Sartorius hatte die Idee für die Petition. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt sie, wie es dazu kam und wo Jens Spahn sich aus ihrer Sicht irrt.

SPIEGEL ONLINE: Der Gesundheitsminister will, dass künftig speziell ausgebildete Experten entscheiden, wer welche Psychotherapie bekommt. Gerade Menschen mit schwerwiegenden Problemen sollen so schneller Hilfe bekommen. Was ist so schlecht daran?

Ariadne Sartorius: Spahns Gesetzentwurf entmündigt und diskriminiert Menschen mit psychischen Problemen. Meine Patienten kommen beispielsweise gezielt zu mir, weil ich ihnen empfohlen wurde oder weil sie meine Homepage angesprochen hat. Wenn wir uns zum ersten Mal treffen, gibt es also schon ein gewisses Grundvertrauen. Spahns Vorhaben würde das grundlegend ändern. Patienten könnten sich ihren Therapeuten nicht mehr aussuchen, sondern müssten einem Experten glaubhaft machen, dass sie tatsächlich Hilfe brauchen – und das innerhalb kürzester Zeit. Um Vertrauen aufzubauen, bleibt keine Zeit.

SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht eine berechtigte Forderung, um unnötige Therapien zu vermeiden?

Sartorius: Spahn stellt Menschen mit psychischen Problemen mit seinen Plänen unter Generalverdacht. Sie müssten künftig erst beweisen, dass sie eine Therapie brauchen und nicht etwa nur einen Freund. Das baut enormen Druck auf. Gerade Menschen, die eigentlich dringend Hilfe brauchen, werden erst recht abgeschreckt. Viele meiner Patienten brauchen lange, bevor sie über Intimes sprechen und berichten können, wie sehr sie leiden. Kein Therapeut kann nach nur einem Gespräch für jeden den geeigneten Therapieplan aus dem Hut zaubern.

SPIEGEL ONLINE: Bei der Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen gibt es enorme Engpässe. Wenn nicht mit Spahns Vorschlag – wie sollen sie sonst gelöst werden?

Sartorius: Es hat sich schon viel verbessert. Seit gut anderthalb Jahren gibt es psychotherapeutische Sprechstunden, zu denen jeder mit psychischen Problemen kommen kann. Das Instrument hat sich bisher bewährt. Die Wartezeit auf ein erstes Gespräch hat sich deutlich verkürzt. Diesen Weg sollten wir weiterverfolgen und ihn nicht gleich wieder abwürgen.


Die psychotherapeutische Sprechstunde

Seit April 2017 sind Psychotherapeuten verpflichtet, Sprechstunden anzubieten. Dadurch sollen gerade Menschen mit schwerwiegenden psychischen Problemen deutlich schneller an einen Therapieplatz kommen. Mehr dazu lesen Sie hier. Laut einer Untersuchung der Bundespsychotherapeutenkammer erhalten knapp 60 Prozent der Ratsuchenden eine psychotherapeutische Behandlung. Jeder sechste von ihnen erlebt so eine starke psychische Krise, dass eine Akutbehandlung notwendig ist. Die anderen 40 Prozent der Patienten bekommen dagegen keine Therapie. Etwa, weil sie aus Sicht des Therapeuten keine brauchen oder weil es nicht ausreichend Plätze gibt. Bei der Auswertung wurden 240.000 Patientendaten ausgewertet.


SPIEGEL ONLINE: Derzeit bekommen 40 Prozent der Patienten nach der Akutsprechstunde keinen Therapieplatz, zeigt eine Untersuchung der Bundespsychotherapeutenkammer. Teilweise, weil sie keine Therapie benötigen, aber auch weil es nicht ausreichend Plätze gibt. Die Sprechstunden allein können das Problem mit der mangelnden Versorgung also offenbar nicht lösen. Welche anderen Wege gibt es?

Sartorius: Was wir brauchen, sind mehr Psychotherapeuten, die ihre Leistungen über die Krankenkasse abrechnen können, also mehr Kassenzulassungen besonders in ländlichen Regionen. Außerdem hapert es oft noch an der Koordination zwischen Psychotherapeuten, Ärzten und Psychiatern, weil das derzeit nicht abgerechnet werden kann. Solche Absprachen müssen wir deshalb freiwillig in unserer Freizeit machen.

SPIEGEL ONLINE: Die Krankenkassen kritisieren, die vorhandenen Zulassungen würden nicht ausreichend genutzt. Viele Psychotherapeuten arbeiten demnach nur in Teilzeit, obwohl sie eine ganze Kassenzulassung besetzen. Müssten die niedergelassenen Psychotherapeuten nicht einfach mehr arbeiten?

Sartorius: Die Vorstellung vom Psychotherapeuten, der sich nur die angenehmen Fälle herauspickt und nur den halben Tag arbeitet, ist schlichtweg falsch. Diesem Irrtum ist offenbar auch Herr Spahn aufgesessen. Es gibt eine Definition einer maximal ausgelasteten Praxis vom Bundessozialgericht: Dies bedeutet für einen Psychotherapeuten, 36 gesetzlich versicherte Patienten pro Woche zu behandeln. Das ist kaum zu schaffen, denn mit einem 50-minütigen Gespräch pro Patient ist es längst nicht getan. Wir müssen uns auch auf den Patienten vorbereiten, die Gespräche auswerten, die Therapie genau dokumentieren und so weiter. Dafür geht ein Drittel unserer Arbeitszeit drauf. Ein Psychotherapeut gilt also erst als voll ausgelastet, wenn er mindestens 55 Stunden arbeitet. Das können die wenigsten leisten, gerade bei einem so verantwortungsvollen Job.

SPIEGEL ONLINE: Warum kommt Ihre Kritik erst jetzt?

Sartorius: Die Änderung des Gesetzesvorhabens hat uns überrumpelt. Herr Spahn hat im Vorfeld nicht mit uns darüber gesprochen. Wir haben das Gefühl, dass der Passus klammheimlich noch im Gesetzesvorhaben untergebracht werden sollte. Das nehmen wir nicht hin und geben uns erst dann zufrieden, wenn er wieder gestrichen wird.

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