Partner, Job, Selbstbild: Wer zu hohe Erwartungen hat, versäumt sein Leben!

Wer an sich und sein Umfeld zu hoher Erwartungen stellt, riskiert Enttäuschungen, Unzufriedenheit und im schlimmsten Fall Depressionen. Im Zwang, alles zu perfektionieren, verlieren wir uns häufig selbst. Wer sich zu hohe Ziele setzt, kann weit in die Tiefe stürzen. Und er verpasst, sein Leben zu leben.

Immer wieder erlebe ich vor allem junge Menschen, die ihr Leben versäumen. Das hat viele Gründe. Einen Grund sehe ich darin, dass sie sich zu hohe Ziele setzen. Das fängt bei vielen im Berufsleben an. Sie wollen möglichst schnell viel Geld verdienen. Doch den idealen Arbeitsplatz, an dem ich viel Geld verdiene, gibt es kaum.

Andere haben zu hohe Erwartungen an sich selbst. Daher machen sie eine Ausbildung nach der anderen, um dann fähig zu sein, die Aufgaben im Beruf zu erfüllen. Doch dann erfahren sie bei der Bewerbung, dass sie überqualifiziert sind. Und so bekommen sie den erhofften Arbeitsplatz nicht. Andere haben an die Firma zu hohe Erwartungen. Sie sind enttäuscht, wenn sie sich am Anfang in der Firma erst einmal hocharbeiten müssen. Sie fühlen sich dann überqualifiziert und lassen sich auf die Arbeit nicht ein, die sie auf ihrem beruflichen Weg weiterbringen würde. imago/epd Pater Anselm Grün im Hof des Benediktinerklosters in Münsterschwarzach.

Über den Gastautor

Anselm Grün wurde 1945 geboren. Er ist Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach und Buchautor. Die zahlreichen Publikationen des Theologen erscheinen weltweit in mehr als 30 Sprachen. Themen seiner Schriften sind unter anderem Spiritualität, Psychologie, Glück und Lebenslust.

Den idealen Lebenspartner finden wollen

Zu hohe Erwartungen gibt es auch in Bezug auf den idealen Lebenspartner und die ideale Lebenspartnerin. Da verliebt sich ein junger Mann in eine junge Frau. Sie verstehen sich gut. Doch je länger sie zusammen sind, desto mehr Schattenseiten entdeckt man am andern. Der andere ist ungeduldig. Er ist nicht so ordnungsliebend wie ich. Er ist nicht so ehrgeizig, wie ich es von ihm beziehungsweise von ihr erwartet hätte.

Die zu hohen Erwartungen führen dazu, dass man sich auf keinen Partner beziehungsweise auf keine Partnerin wirklich einlassen kann. Man möchte warten, bis man den idealen Partner findet. Doch den findet man nie. Nur wenn ich bereit bin, mich auf einen konkreten Menschen einzulassen, der immer neben seinen starken und anziehenden Seiten auch manches weniger Angenehme mit sich bringt, wird mir die Partnerschaft gelingen. Wenn ich an meinen hohen Erwartungen festhalte, werde ich nie den Partner finden, nach dem ich mich sehne. Und so werde ich meinen Traum einer gelingenden Partnerschaft und einer harmonischen Familie irgendwann begraben müssen.

„Versäume nicht dein Leben“ von Anselm Grün

Zu hohe Erwartungen an sich selbst

Die zu hohen Erwartungen richten sich oft auch auf uns selbst. Ich habe an mich den Anspruch, perfekt zu sein, alles im Griff zu haben, erfolgreich zu sein, gut auftreten zu können, cool zu reagieren, wenn ich kritisiert werde, und voller Selbstvertrauen aufzutreten. Doch – so sagt der Schweizer Psychiater Daniel Hell – oft geraten solche Menschen mit zu hohen Erwartungen in eine Depression. Er nennt die Depression einen Hilfeschrei der Seele gegen zu große Erwartungen.

Die Depression hindert mich daran, meine hohen Selbstbilder zu verwirklichen. Anstatt der erfolgreiche und selbstbewusste Mensch zu sein, plage ich mich dann mit meinen Depressionen herum. Ich fühle mich schwach, unfähig, mich auf die Arbeit einzulassen, nach der ich mich gesehnt habe, um möglichst gut verdienen zu können.

Was hilft, unser Leben nicht zu versäumen

Die Frage ist, was uns helfen kann, unser Leben nicht zu versäumen. Die christliche Antwort auf diese Frage wäre Demut. Doch das ist heute keine Tugend, nach der wir uns sehnen. Und doch hängt alles davon ab, dass wir hinabsteigen in die eigene Wahrheit. Demut heißt im Lateinischen „humilitas“. Und das kommt von „humus = Erde“. Demut bedeutet, mit beiden Beinen gut auf der Erde stehen zu können.

Wer zu sehr in die Höhe fliegen möchte, ohne seiner eigenen Wirklichkeit begegnen zu wollen, dem geht es wie dem Ikarus, der in der griechischen Mythologie für den jungen Menschen steht, der immer höher fliegen will, aber dabei in einen Höhenrausch kommt, der ihn immer näher an die Sonne bringt. Und irgendwann schmilzt das Wachs, aus dem seine Flügel geformt sind. Und er stürzt jäh ab.

Wer zu hohe Ziele hat, der stürzt leicht in die Tiefe. Wer den Mut aufbringt, seine Wirklichkeit realistisch anzuschauen und auch in seinen eigenen Schatten hinabzusteigen, der wird sich in der Welt bewähren. Er braucht seine Augen nicht zu verschließen vor seinen schwachen und dunklen Seiten. Er hat ja den Mut, in die Tiefen seiner Seele hinabzusteigen und alles in sich anzuschauen. Wir Christen beziehen den Mut, in die Tiefen unserer Seele hinabzusteigen, aus der Zusage Jesu, dass er selbst in die Tiefen unseres Menschseins hinabgestiegen ist, um alles in uns zu erleuchten.

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  • Auch im beruflichen Kontext gilt, dass wir zuerst in aller Demut uns den Arbeiten widmen, die uns aufgetragen sind. Wenn wir sie gut erfüllen, dann werden wir immer stärker und wir entdecken allmählich unsere Fähigkeiten. Wenn dann die Firma unsere Fähigkeiten erkennt, wird sie uns auch auf der Karriereleiter Schritt für Schritt nach oben klettern lassen. Doch wer den Weg nach unten scheut, der wird auch nicht nach oben kommen.

    Die Lateiner haben diese Weisheit schon vor zweitausend Jahren so ausgedrückt: „per aspera ad astra“. Durch das Harte und Raue gelangen wir zu den Sternen. Das gilt nicht nur für den beruflichen Bereich, sondern genauso für unsere Beziehungen zu Freunden und Partnern und Partnerinnen. Nur wenn wir bereit sind, auch durch Konflikte hindurchzugehen und sie durchzustehen, werden sich neue Möglichkeiten des Miteinanders ergeben, werden wir fähig, den andern so zu lieben, wie er ist, anstatt ihm unsere überhöhten Bilder überzustülpen, denen er nie gerecht werden kann.

    Und es gilt auch für die Beziehung zu uns selbst. Nur wenn wir den Mut haben, hinabzusteigen in die Dunkelheiten und chaotischen Bereiche unserer Seele, werden wir ein Selbstvertrauen erlangen, das nicht von der Angst geprägt ist, die andern könnten unsere Schattenseiten erkennen. Wenn wir uns den Schattenseiten stellen, macht uns das Urteil der andern keine Angst mehr.

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