Die Lage ist ernst: In Deutschland gibt es aktuell kaum freie Betten für Kinder auf Intensivstationen. Das RS-Virus bereitet sich aus und kann vor allem für kleine Kinder gefährlich werden. „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“, warnt nun ein Arzt.
Überbelegte Patientenzimmer, tagelanger Aufenthalt in der Notaufnahme, Verlegung von kranken Babys in mehr als 100 Kilometer entfernte Krankenhäuser: Die aktuelle Welle von Atemwegsinfekten bringt Kinderkliniken in Deutschland an ihre Grenzen. Von einer „katastrophalen Lage“ auf den Kinder-Intensivstationen spricht die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Wenn ein gerade reanimierter Säugling in einer eigentlich voll belegten Kinderklinik aufgenommen werde, müsse dort ein Dreijähriger den dritten Tag in Folge auf seine dringend notwendige Herzoperation warten.
In den kommenden Wochen sei mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen, hatte es im RKI-Wochenbericht vergangener Woche geheißen. „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“, sagte der Leitende Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, Michael Sasse. Die Lage sei ohnehin schon prekär. Doch die enorme Welle von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) habe die Situation noch einmal verschlimmert. „Jetzt werden drei Jahrgänge von Kindern diese Infekte durchmachen, weil sie ohne Mundschutz durch die Gegend rennen“, sagte Sasse mit Blick auf die aufgehobenen Corona-Beschränkungen. Das überfordere die Kliniken in „totaler Weise“. Inzwischen würden Kinder auf Normalstationen behandelt, die eigentlich auf Intensivstationen gehörten.
Intensivbetten für Kinder werden langsam knapp
Die Intensiv- und Notfallmediziner untermauerten ihre dramatischen Befunde mit einer Umfrage unter den 130 Kinderkliniken, die am bundesweiten Kleeblattkonzept zur Patientenverlegung teilnehmen. Dabei arbeiten jeweils bestimmte Bundesländer zusammen. 110 hätten auf die Anfrage vom 24. November geantwortet, sagte der Divi-Generalsekretär und Münchner Kinder-Intensivmediziner Florian Hoffmann. Theoretisch hätte es an diesem Tag in Deutschland insgesamt 607 Kinderintensivbetten gegeben. Tatsächlich seien es etwa vor allem wegen Personalmangels jedoch rund 40 Prozent weniger gewesen. „Aus den 607 Betten wurden 367.“
Und ein Großteil dieser Betten wiederum war belegt. Der Umfrage zufolge meldeten 47 Kliniken null verfügbare Betten, 44 Krankenhäuser nur noch ein freies Bett. Insgesamt gab es an dem Tag bundesweit nur noch 83 freie Betten. Das bedeute, dass es pro Kinderintensivstation weniger als ein freies Bett gegeben habe, sagte Hoffmann. Und um diese wenigen Betten wiederum konkurrierten kleine Patienten aus der Notaufnahme im eigenen Haus oder von den Rettungsdiensten. Hinzu kämen Anfragen von Kliniken mit einer geringeren Versorgungsstufe. „Da sehen wir, dass jede zweite Klinik in den letzten 24 Stunden ein Kind letztendlich ablehnen musste.“
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Alle Betten voll, an RS-Virus erkrankter Einjähriger musste verlegt werden
Weil alle Betten voll waren, wurde zum Beispiel aus der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in der Nacht zu Freitag ein Kind nach Magdeburg verlegt, Entfernung rund 150 Kilometer. „Meine Kollegen hatten 21 Kliniken angerufen“, berichtete Gesine Hansen, Ärztliche Direktorin der MHH-Klinik für Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Neonatologie. Das etwa einjährige Kind hatte eine RSV-Infektion, die vor allem für die Jüngsten und Kinder mit Vorerkrankungen lebensbedrohlich werden kann. Es würden aber keine Kinder in einem sehr schlechten Gesundheitszustand verlegt, betont Hansen. Dann müsse ein Kind, dem es besser geht, an seiner Stelle verlegt werden.
Divi-Generalsekretär Hoffmann sagte, die Lage auf den Intensivstationen liege nicht allein an der aktuellen RSV-Welle. Das Problem sei vielmehr über die vergangenen Jahre immer größer geworden. Die Intensivmediziner fordern unter anderem sofort bessere Arbeitsbedingungen in den Kinderkliniken, den Aufbau telemedizinischer Netzwerke zwischen den pädiatrischen Einrichtungen und den Aufbau von spezialisierten Kinderintensiv-Transportsystemen.
„Dass Kinderleben im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantworten“
Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) kommen weltweit geschätzt 5,6 schwere Fälle von RSV-Atemwegserkrankungen pro 1000 Kinder im ersten Lebensjahr vor. Innerhalb des ersten Lebensjahres hätten normalerweise 50 bis 70 Prozent und bis zum Ende des zweiten Lebensjahres nahezu alle Kinder mindestens eine Infektion mit RSV durchgemacht. Im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen waren viele solche Infektionen allerdings zeitweise ausgeblieben.
Die Kindermediziner sehen jedoch nicht die Pandemie als primäre Ursache der teils dramatischen Situation in den Kliniken. „Dass Kinderleben im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantworten“, sagte Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Früher seien ganz andere Wirtschaftlichkeitskriterien an die Pädiatrie, also Kinderheilkunde, gestellt worden. „Jetzt muss Medizin profitabel sein, nicht Krankheiten heilen, sondern Geld bringen.“
Sechs bis sieben Stunden Wartezeit seien aktuell in manchen Notaufnahmen keine Seltenheit, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Jörg Dötsch. „Es ist sehr unangenehm, wenn Kinder und ihre Familien in der Notaufnahme quasi campieren müssen.“
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Lauterbach will Kliniken mit Finanzspritzen entlasten
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat die kritische Lage auf dem Radar und will gegensteuern. An diesem Freitag soll der Bundestag zwei Finanzspritzen beschließen. Für Kinderkliniken soll es nach den Gesetzesplänen der Ampel-Koalition 2023 und 2024 jeweils 300 Millionen Euro mehr geben, zum Sichern von Geburtshilfestandorten jeweils 120 Millionen Euro zusätzlich. Die Finanzierung soll so auch unabhängiger von der jetzigen, leistungsorientierten Logik werden.
Nicht nur in Deutschland, generell auf der Nordhalbkugel gibt es Experten zufolge derzeit ein starkes RSV-Infektionsgeschehen. Betroffen sind jeweils viele Kinder von ein oder zwei Jahren, die – auch angesichts der Corona-Pandemie und der dagegen getroffenen Maßnahmen – bisher keinerlei Kontakt zum RSV hatten.
Von Christina Sticht und Markus Klemm, dpa
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