New York: In der Krise offenbart die Stadt ihr Gesicht

Neulich haben wir eine Postkarte von Donald Trump bekommen, unsere Nachbarn und wir. “Präsident Trumps Coronavirus-Richtlinien für Amerika” steht darauf in fetten Buchstaben. Auf der Rückseite ermahnt uns der Präsident zu Heimarbeit und Händewaschen. Er warnt, man solle das Virus nicht zu leichtnehmen: Auch junge Menschen sind in Gefahr!

Im Hausflur traf ich die Nachbarin aus dem zweiten Stock. Sie war wütend. Trump sei es, der uns alle in diese Gefahr gebracht habe mit seiner Ignoranz, sagte sie. Hier in Brooklyn war Trump noch nie beliebt, deshalb überraschte mich ihre Wut nicht. Wer in Brooklyn nicht auf Trump schimpft, gehört nicht dazu, schlimmstenfalls hält man ihn sogar für einen aus New Jersey. Doch in die Wut auf Trump mischt sich nun auch ein wenig Angst vor ihm. Angst vor seiner eklatanten Unfähigkeit, die in diesen Tagen Leben kosten wird.

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Ich musste die Karte zwei Mal lesen. Das sollen Trumps Worte sein? Gut ein Monat ist es her, da twitterte Trump noch: “Letztes Jahr starben 37.000 Amerikaner an der Grippe. Nichts wird dichtgemacht, Leben und Wirtschaft laufen weiter. Jetzt haben wir 546 bestätigte Coronavirus-Fälle. Mit 22 Toten. Denkt mal drüber nach!”

Ruhe vor dem Sturrm

Gut einen Monat ist es her, als ich meinen Sohn vom Basketball abholte und eine Mutter erzählte, sie würde Vorräte anlegen. Das Coronavirus war damals in Manhattan angekommen, eine Frau hatte sich auf einer Reise in den Iran angesteckt. Ich habe die Sorgen der Mutter nicht ernst genommen, hielt sie für eine dieser überängstlichen Weltuntergangs-Prepper. Die Gefahr schien weit weg. Unsichtbar.

Heute stapeln sich bei uns die Nudelpackungen. Heute sehe ich fast jeden Vormittag den Livestream von Gouverneur Andrew Cuomo, der die New Yorker in immer eindringlicheren Worten auf ihre schlimmsten Tage seit dem 11. September 2001 vorbereitet. Auf Tage, an denen 1000 New Yorker am Coronavirus sterben werden. Auf eine Serie von solchen Tagen. Wir durchleben die Ruhe vor dem Sturm.

Coronavirus-Krise

New Yorks Gouverneur Cuomo: "Es werden Tausende sterben"

Dabei ist das Coronavirus keine unsichtbare Gefahr mehr in New York City. Jeder kennt jemanden, der erkrankt ist. Viele kennen jemanden, der gestorben ist. Jeder redet davon, dass es bald an Krankenhausbetten mangeln wird und an Beatmungsgeräten, jeder hat die Bilder gesehen von Menschenschlangen vor den Corona-Testzelten der Krankenhäuser, jeder hat Nachrufe gelesen von bekannten New Yorkern, die dem Virus zum Opfer fielen. Der Elternverein der Schule meines Sohnes sammelt Gummistiefel und Regenjacken für das Krankenhauspersonal. Als zusätzlichen Schutz neben den OP-Kitteln, heißt es. So erbärmlich ist die Situation in den Krankenhäusern in einer der reichsten Städte der Welt. Und wenn meine Frau und ich die Straße hochgehen zum Prospect Park, weil wir uns einreden, dass die Kinder im Appartement durchdrehen (dabei sind wir es), dann kommen wir am Krankenhaus vorbei. Die Krankenwagen parken in langen Reihen auf der Straße. Auf dem Parkplatz wurden Zelte hochgezogen für Corona-Tests. Die Kühlung eines langen Anhängers summt. Sie haben ihn herangekarrt, weil es keinen Platz mehr gibt in der Leichenhalle.

Die Gefahr ist längst nicht mehr unsichtbar

Die Gefahr des Coronavirus ist so sichtbar in der Stadt, dass wir alle vorsichtig geworden sind. Wir und unsere Nachbarn wischen selbst die Verpackung unserer Einkäufe mit Desinfektionstüchern ab. Vor Drogeriemärkten sitzen Angestellte, die darüber wachen, dass nur zehn Kunden gleichzeitig drinnen sind.

Gleichzeitig geht das Leben weiter. Nur anders. Jeden Morgen sitzt mein Sohn vor dem Laptop und lernt mit seinen Mitschülern aus der zweiten Klasse in Videokonferenzen, die Erzieherin meiner Tochter liest auf Facetime Bücher vor und gibt Kinderyoga. Die Straßen sind leer, der Park ist voller, die Jogger und Spaziergänger aber halten Abstand.

In den U-Bahnen herrscht jetzt Stille – und an die neue New Yorker Stille werde ich mich wohl bis zum Ende dieser Tage nicht gewöhnen. Die New Yorker erst recht nicht. Keine Ellbogen-Kämpfe mehr um Plätze. Stattdessen sitzen die wenigen Menschen, die jetzt noch U-Bahn fahren, in großen Sicherheitsabständen auseinander, jeder darauf bedacht, nichts zu berühren. Sie tragen Masken, ein Mann in der F-Linie neulich sogar eine Schnorchelbrille. Alle sind höflich in dieser Krise, man nickt sich zu, lässt aneinander vorbei. Die hektische Stadt, sie lernt die Geduld.

Sozialstrukturen offen gelegt

Krisen wie diese legen die Sozialstrukturen einer Stadt offen, deutlich wie ein Röntgenbild. Neulich fuhr ich mit dem Rad durch Manhattan, in vor Corona-Tagen war das ein beinahe selbstmörderisches Himmelfahrtskommando. Nun kam ich mir manchmal vor, als sei ich zwischen den Häuserschluchten zusammen mit den letzten unbeugsamen gelben New Yorker Taxis allein auf dieser Welt. Ich kam an den beinahe verwaisten Luxus-Apartmenthäusern in der Fifth Avenue vorbei.

Die Reichen der Stadt sind in ihre Sommerhäuser geflohen. Die Mega-Reichen per Helikopter. Die Mittel-Reichen im SUV. Vor zwei Wochen sorgte ihr Exodus für einen Mega-Stau in die Hamptons, für leere Supermärkte in den Strandgemeinden und überfüllte Krankenbetten in den Corona-Stationen. Als ich durch Manhattan fuhr, begegnete ich denen, die die Armut an die Stadt kettet, vor allem Lieferboten auf ihren elektrischen Fahrrädern und Motorrollern. Und den vielen Obdachlosen, die sonst in der Masse der Passanten auf den Straßen untergehen.

Auch viele Ausländer haben die Stadt schon verlassen. Es sei jetzt besser in Deutschland zu sein, erklärten deutsche Freunde und reisten ab, eine Entscheidung von vier Tagen. Das deutsche Generalkonsulat schrieb uns in einer Mail, es rate deutschen Touristen dringend zurückzukehren. Wenn wir solche Nachrichten lesen, wird auch uns mulmig.

New York ist ein Verspechen

Und doch gibt es hier nicht nur Gefahr. New York City ist schließlich mehr als eine Stadt, New York ist ein Versprechen. Erst recht in der Krise. Größer als die Angst ist der Glaube der Menschen, dass New York City sich schon bald wieder von Corona erholen wird. Schließlich, so sagte mir ein arbeitsloser Broadway-Ticketverkäufer, der aus alter Gewohnheit an seinem Arbeitsplatz am Times Square stand, habe sich diese Stadt bisher immer von allem erholt.

Hier, auf dem Times Square zu stehen, fühlt sich gespenstisch an in diesen Tagen. Ich blicke auf all diese blinkenden Lichter, die Shows bewerben, die niemand sehen kann. Auf eine Kunstwelt, die brutal von der realen Welt eingeholt wurde und trotzig einfach weitermacht.

So wie die Stadt, die sie hervorgebracht hat.

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