Nature-Studie fehlerhaft: Infizierte sind bis zu 6 Tage vor Symptombeginn ansteckend

Wer zwei Tage vor Ausbruch der Krankheit Kontakt mit einem Covid-19-Infizierten hatte, muss sich testen lassen. Das ist allgemein bekannt. Doch Forscher haben nun herausgefunden, dass das offenbar nicht reicht.

Nach bisherigen Erkenntnissen sind Covid-19-Infizierte zwei Tage vor Ausbruch der Symptome ansteckend. So steht es auch im „Sars-CoV-2 Steckbrief“ des Robert-Koch-Instituts (RKI): „Darüber hinaus steckt sich vermutlich auch ein beträchtlicher Anteil der Personen von anderen, infektiösen Personen in den 1-2 Tagen vor deren Symptombeginn an“.

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Als Kontaktperson gilt, wer zwei Tage vor Auftreten der ersten Symptome mit einem Corona-Infizierten zu tun hatte. In dem Fall muss sich die Kontaktperson selbst auf das Virus testen lassen, denn dann herrscht dringender Verdacht auf eine Ansteckung. Das dürfte den meisten Menschen in Deutschland inzwischen bekannt sein.

Doch nun erklären Forscher der Eidgenössischen Technischen Universität (ETH) Zürich, dass diese Regel falsch ist. So seien Corona-Patienten nicht nur bis zu zwei Tage vor Krankheit infektiös, sondern bis zu sechs. Das hätte massive Auswirkungen für die Nachverfolgung von Kontaktpersonen und Infektionsketten. Denn, um 90 Prozent der präsymptomatischen Ansteckungen abzufangen, müsste man den Forschern zufolge Kontakte bis zu vier Tage zurückverfolgen.

Bisher galt: Infizierte bis zwei Tage vor Krankheitsausbruch ansteckend

Die Forscher der ETH beziehen sich auf eine Studie der Universität Hong Kong, die auch das RKI als Quelle für die Infektiosität präsymptomatischer Überträger nennt und die die Grundlage für das Corona-Kontakttracing in den meisten Ländern der Welt ist. Bei der Studie, an der der Epidemiologie und führende Seuchenexperte Asiens Gabriel Leung, der auch die Weltgesundheitsorganisation berät, beteiligt war, wurden 77 Infektionspaare untersucht, die sich nachweislich gegenseitig angesteckt hatten.

Dabei fanden die Forscher heraus, dass Infizierte bis zu zwei Tage vor Krankheitsausbruch ansteckend seien, wenngleich die höchste Infektiosität kurz vor Symptombeginn vorliege. Ihre Ergebnisse haben sie am 15. April in der Fachzeitschrift „Nature Medicine“ veröffentlicht.

Forscher finden Fehler in Studie, die Grundlage für Tracing bildet

Jetzt, vier Monate später, erklärt ein Forscherteam um Sebastian Bonhoeffer, Professor für Theoretische Biologie an der ETH Zürich, einen Fehler in der Studie seiner Kollegen aus Hong Kong gefunden zu haben: Laut ihren Berechnungen seien Infizierte mithin länger ansteckend, und zwar bis zu sechs Tage vor dem Auftreten der ersten Symptome. Ihre Ergebnisse haben die Forscher gerade in der „Swiss Medical Weekly“ veröffentlicht.

Konkret widerlegen sie darin, dass 98 Prozent der präsymptomatischen Ansteckungen auf die zwei Tage vor Ausbruch der Krankheit entfallen, wie die Autoren der Originalpublikation berechneten. Ihre neue Analyse zeigt stattdessen, dass es nur 61 Prozent sind – was wiederum bedeutet, dass man mit der Rückverfolgung der Kontakte in den zwei Tagen vor Krankheitsbeginn nicht alle Zweitinfektionen erfassen wird.

„Will man 90 Prozent der präsymptomatischen Ansteckungen abfangen, müsste man die Kontakte bis zu vier Tage zurückverfolgen“, sagte Peter Ashcroft, der den Fehler in der chinesischen Studie aufdeckte, gegenüber der „Neuen Zürcher Zeitung“. Inzwischen ist der Fehler auch in der Originalpublikation korrigiert worden.

„Wir haben die Autoren in Hongkong informiert, und sie waren mit unserer Korrektur einverstanden“, erklärte Bonhoeffer. In ihrer aktualisierten Studie heißt es nun also:

Our analysis suggests that viral shedding may begin 5 to 6 days before the appearance of the first symptoms. (“Unsere Untersuchung legt nahe, dass die Virusausscheidung schon 5 bis 6 Tage vor dem Auftreten erster Symptome einsetzen könnte.”)

Mögliche Folgen für die Nachverfolgung von Kontaktpersonen

Doch was bedeutet das für die Nachverfolgung von Kontaktpersonen? „Mit dem Tracing möchte man ja erreichen, dass möglichst viele Personen, die mit einem neu bestätigten Fall während der infektiösen Phase Kontakt hatten, in Quarantäne gehen. Wenn man nun aber bereits vier Tage vorher ansteckend ist, müsste man den Zeitrahmen für das klassische und für das digitale Tracing entsprechend anpassen“, zitiert die „NZZ“ den Epidemiologien Marcel Salathé von der ETH Lausanne.

Das RKI prüft das Studienergebnis gerade

Auch das RKI prüft die Studie deshalb gerade gründlich, wie es auf Nachfrage von FOCUS Online mitteilt. Aufgrund verschiedener Studien und eigener Erfahrungen etwa aus dem Ausbruch beim Automobil-Zulieferer Webasto habe man die Zwei-Tages-Regel seit Januar in die Kontaktpersonennachverfolgung einbezogen. „Darüber hinaus gibt es auch die Einschätzung aus der Praxis, Modellierungen mit einer gewissen Vorsicht in Entscheidungen einzubeziehen. Zum Beispiel ist nur sehr selten beschrieben, was genau als ‚Symptombeginn‘ definiert ist“, erklärt eine Sprecherin.

„Aus dem Webasto-Cluster wissen wir, dass dieser sehr schleichend sein kann und ein oder mehrere Tage an leichter Symptomatik einer ‚typischeren‘ vorausgehen kann.“ Dies könne dazu führen, dass in einer Studie systematisch – oder gar unsystematisch – der Tag des Symptombeginns zu spät verortet werde, „und dadurch auch der präsymptomatisch-infektiöse Anteil überschätzt wird“. Bisher habe man mit der Zwei-Tages-Regel jedoch gute Erfahrungen gemacht.

Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit hat die Korrektur ebenfalls zur Kenntnis genommen. „Wir sind derzeit dabei, ihre möglichen Auswirkungen auf das Contact-Tracing zu evaluieren“, hieß es dort auf Anfrage der „NZZ“. Dabei sollten auch internationale Empfehlungen berücksichtigt werden. „Die ETH-Studie wird ein Thema in der anstehenden Diskussion mit der wissenschaftlichen Task-Force sein. Im Moment können wir daher noch nicht sagen, ob wir dem Vorschlag folgen werden.“

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