Lockerungen oder Verschärfungen? Deutschland will sich locker machen – und das Virus lacht sich eins

Es rumort im Land. Dem Coronavirus geht und geht die Puste nicht aus, der Unmut über den Lockdown und die Restriktionen aber wächst. Die Debatte um eine schrittweise Rückkehr zu einem normaleren gesellschaftlichen Leben ist aufgeheizt, der Druck auf die Politik wächst. In vielen Bundesländern ist am Montag der Schulbetrieb wieder gestartet, Frisöre sollen in der kommenden Woche Kunden begrüßen dürfen. Weitere Öffnungen wurden beim Erreichen niedriger Inzidenzen in Aussicht gestellt. Doch daran hapert es. Die Infektionszahlen steigen seit Tagen wieder an, die Zeichen stehen auf dritte Pandemiewelle. Das Lockern jetzt könnte dem Virus einen neuen Push geben, befürchten Experten. Dem zum Trotz mehren sich alternative Öffnungsstrategien. 

Für die kommende Woche ist der nächste Corona-Gipfel von Kanzlerin Angela Merkel und den Ministerpräsidenten anberaumt, dann soll das weitere Vorgehen im Kampf gegen das Coronavirus diskutiert werden, bestenfalls eine konkrete Strategie raus aus dem Lockdown beschlossen werden. Dass die Sehnsucht der Bürgern nach einer Öffnungsstrategie groß sei, verstehe sie, sagte Kanzlerin Merkel laut Medienberichten im CDU-Präsidium am Montag. Dennoch mahnte sie demnach zur Vorsicht und plädierte für eine vorsichtige Strategie. Öffnungsschritte müssten klug eingeführt werden, beispielsweise in Kombination mit vermehrten Corona-Tests. Wie Teilnehmern gegenüber "AFP“ berichteten, schlug Merkel vor, dass Pakete für die Bereiche persönliche Kontakte, Schulen und Berufsschulen sowie Sport, Restaurants und Kultur geschnürt werden sollten. Was das genau bedeutet, bleibt abzuwarten.

"Impfdrängler"-Debatte


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Bayern Ministerpräsident Markus Söder preschte schon einmal vor. Er macht, könnte man sagen, die Läden im Alleingang wieder auf. Er kündigte aus dem Nichts Lockerungen an. Und das, obwohl auch in seinem Bundesland der Trend nicht gerade positiv ist. Trotzdem dürfen neben Frisören ab kommendem Montag auch andere Dienstleister körpernaher Tätigkeiten in Bayern ihre Arbeit wieder aufnehmen. Und auch Teile des Einzelhandels dürfen wieder aufsperren – Blumenläden, Gärtnereien und Gartencenter. In Aussicht stellte er auch, dass der gesamte Handel seine Geschäfte bald wieder aufnehmen könnte. Wohlgemerkt: könnte. Denn aufgemacht wird nur, wenn sich die Inzidenz dauerhaft bei einem Wert von 35 einpendelt. Damit hält er an dem bereits bekannten – von der Politik angestrebten – Inzidenzwert fest. Einzig: Dass eine solche Sieben-Tage-Inzidenz überhaupt in absehbarer Zeit erreicht wird, ist unwahrscheinlich.

Bye, bye 50

Denn das Virus spielt nicht mit. Obwohl es einige Wochen so aussah, als würden die Corona-Restriktionen greifen, die Sieben-Tage-Inzidenz in der vergangenen Woche auf 57 absank und die magische Schwelle von 50 in Reichweite schien, zeigt die Kurve seit Tagen wieder nach oben. Am Montag meldete das Robert-Koch-Institut den Wert 61 – Tendenz steigend. Denn auch der R-Wert steigt wieder. Dieser gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt mit dem Virus ansteckt. Nur wenn er für längere Zeit unter 1 liegt, flaut das Infektionsgeschehen ab. Das ist derzeit nicht der Fall. Dass RKI meldete in seinem Lagebericht vom Sonntagmittag einen Wert von 1,1.

"Der Inzidenzwert zeigt, wo wir aktuell stehen. Der R-Wert zeigt, wohin wir gerade gehen. Bei einem Wert klar über 1,0 droht wieder exponentielles Wachstum – und genau das ist jetzt der Fall", sagte am Montag Frank Ulrich Montgomery, der Vorsitzende des Weltärztebundes. Er warnte eindringlich davor, Corona-Maßnahmen zu lockern. Wer in Zeiten steigender R-Werte über Lockerungen spreche, handele "absolut unverantwortlich", sagte er. Bei jeder Lockerung werde es einen deutlichen Anstieg der Zahlen geben, für solche Schritte sei es zu früh.

Ringen um Lockerungen

Der vermeintliche Paukenschlag Söders zum Wochenbeginn ist hinsichtlich der aktuellen Entwicklungen ohnehin mehr Euphemismus als tatsächliche Option. Profitieren werden zunächst einmal nur die Bereiche, die unabhängig von Inzidenzen wieder öffnen dürfen. Alle anderen müssen warten wie gehabt – auf die 50, die 35, die 10.

Dass die möglichen Lockerungen in Abhängigkeit vom Erreichen dieser Inzidenzwerte gestellt werden, sehen inzwischen Berlins Amtsärzte überhaupt nicht mehr ein. Wie der "Tagesspiegel“ berichtete, fordern sie in einer Stellungnahme an die Senatskanzlei einhellig, von diesen Plänen abzurücken. "Die Inzidenzen bilden nicht das wirkliche Infektionsgeschehen ab", schreiben sie, da sie von der Menge der durchgeführten Corona-Tests abhängig seien.

"Dadurch kommt es zu Schwankungen, die nicht die infektiologische Lage widerspiegeln“, zitiert das Blatt die Ärzte. Notwendig sei eine nach Altersgruppen ausgerichtete Inzidenzanalyse als "Frühwarnsystem", also Maßnahmen, die sich danach richten, welche Konsequenzen eine Erkrankungen haben könnte. Kurz: Alte und Kranke müssten intensiver vor dem Virus geschützt werden als beispielsweise Kinder. Sogenannte "NoCovid“-Strategien würden "den Lebenswirklichkeiten nicht gerecht".

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Die dritte Welle

Für eine solche Strategie macht sich unter anderem Virologin Melanie Brinkmann stark. In einem Spiegel-Interview, das vor rund zwei Wochen erschien, setzte sie sich für konsequentere Corona-Maßnahmen ein, es gehe darum, Zeit zu gewinnen, den Siegeszug der Varianten hinauszuzögern. Dabei hatte sie darauf hingewiesen, dass sich eine neue Pandemie "sozusagen im Hintergrund" gerade warmlaufe. Sie sagte: "Die Mutante aus Großbritannien und andere werden uns überrennen, das Virus hat einen Raketenantrieb bekommen".

Mit welcher Geschwindigkeit die Corona-Mutationen arbeiten, zeigt der Blick in die Zahlen. Das RKI hatte bereits am vergangenen Donnerstag gemeldet, dass der Anteil der ansteckenderen britischen Variante binnen zwei Wochen von knapp 6 auf mehr als 22 Prozent angestiegen sei. Die Verbreitung der neuen Varianten sehen Experten als wesentlichen Treiber dafür, dass die Infektionszahlen wieder ansteigen. "Die 3. Welle beginnt jetzt", schrieb auch Corona-Experte Karl Lauterbach auf Twitter. Die Frage sei nur," wie schnell und wie stark".

Schule wieder offen, Kultur und Sport im Wartemodus

Glaubt man den Zahlen, den Modellrechnungen und Experten wie Brinkmann, Lauterbach und Montgomery ist damit zu rechnen, dass die Infektionszahlen nach oben schnellen, sobald die Corona-Maßnahmen gelockert werden. Zumal die Werte bereits ohne Lockerungen wieder anstiegen. Dennoch haben nach Niedersachsen und Sachsen auch Kitas und Grundschulen in zehn weiteren Bundesländern ab dieser Woche den Betrieb wieder aufgenommen.

Der Unterricht soll entweder im Wechselbetrieb stattfinden mit halben Klassen, die abwechselnd zur Schule kommen, oder im Vollbetrieb mit festen Gruppen, die sich möglichst nicht begegnen sollen. In den Kitas werden wieder mehr oder alle Kinder betreut. Die Einzelheiten regelt jedes Bundesland für sich. "Kinder jetzt wieder in die Schulen zu schicken, ist wirklich eine der dümmsten, bescheuertsten Ideen aller Zeiten", urteilte Moderator Jan Böhmermann in einem Twitter-Post.

“Keine falschen Versprechungen”

Wie sinnvoll die Schulöffnungen sind, werden die kommenden Wochen zeigen.  Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin", dass er hinsichtlich weiterer Lockerungen angesichts der zunehmenden Verbreitung von Virusmutationen abwarten wolle, wie sich die Öffnung weiterer Schulen und Kitas an diesem Montag auswirke. Forderungen eines zeitlich verbindlichen Plans für Lockerungen der Corona-Beschränkungen wies er ab. Er stellte weiterhin einen Neuinfektionswert von unter 10 als erstrebenswert dar.

"Alle wünschen sich einen Drei- und Sechs-Monatsplan, aber das geht halt gerade nicht. Ich finde, wir dürfen da keine falschen Versprechungen machen", sagte Spahn."Es macht Sinn, miteinander – das ist ja das Gespräch mit den Ländern – Stufen zu definieren, ab wann der nächste Schritt gegangen werden kann. Aber die Wahrheit ist: Eine Inzidenz von unter 10, die ist jedenfalls in den allermeisten Regionen in Deutschland gerade ziemlich weit weg."

Härtere Maßnahmen statt Lockerungen?

Sport und Kultur scharren bereits mit den Hufen. Am Montag wurde in Berlin ein modulares Konzept von rund 40 Sport- und Kultureinrichtungen vorgestellt, an dem 20 Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen mitgewirkt haben. Ziel ist es, wieder mehr Zuschauer in ihre Spielstätten holen – bis hin zu Vollbesetzung. Einen konkreten Zeitpunkt wollten die Beteiligten nicht nennen. Es gehe um eine Zusammenschau von verschiedenen Kriterien, "zentrale Frage ist die Belastung des Gesundheitswesens", sagte Kainzinger. "Wir können nicht alles absperren, bis die letzte Person geimpft ist."

Während mehr und mehr Öffnungskonzepte die Runde machen, sinnieren andere schon längst über eine Verschärfung der Maßnahmen. "Ich hör immer nur öffnen. Ich möchte mal einen erleben, der mal sagt, jetzt machen Sie mal ein bisschen was schärfer. Das hör ich nie!", sagte schon vor Tagen Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Eine dritte Welle, die noch schlimmer wäre als die zweite, könne nicht im Interesse der Wirtschaft sein. "Dann machen wir einen richtigen Lockdown – den gab es bisher ja gar nicht." Kretschmann steht nicht allein. Auch Experten wie Molekularbiologe und Regierungsberater Rolf Apweiler hatte bereits angekündigt, dass stärkere Restriktionen nötig würden, sollte sich der Trend bestätigen. 

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