Lipödem: Ich habe Schmerzen, aber die Krankenkasse hilft mir nicht

Dieser Text erschien zuerst an dieser Stelle bei brigitte.de.

"Du bist eben sehr weiblich" – das ist ein Satz, den ich nie mehr in meinem Leben hören möchte. Ich weiß, Freunde wie auch Familie haben seit jeher versucht, mich mit diesen Worten zu beruhigen, wenn ich mal wieder verzweifelt über meinen eigenen Körper war und ich trotz Sport und gesunder Ernährung keine zufriedenstellenden Ergebnisse vorzeigen konnte. Schließlich sähe ja nicht jeder Körper gleich aus. Das stimmt auch, doch habe ich leider keine (angeblich) begehrenswerten Kardashian-Kurven, sondern meine Rundungen kommen von einer Krankheit mit dem Namen Lipödem.

Das Lipödem ist eine chronische Fettverteilungsstörung und tritt praktisch ausschließlich bei Frauen auf. Oft nach hormonellen Umstellungen wie der Pubertät oder einer Schwangerschaft. Zu den sichtbaren Fettvermehrungen an Armen und Beinen kommen regelmäßig auftretende spürbare Beschwerden wie Schmerzen und eine erhöhte Druckempfindlichkeit der Haut. Die Ursachen für die Krankheit sind unklar und es gibt zwei Therapiemöglichkeiten: Die konservative Therapie, mit Kompressionswäsche und manueller Lymphdrainage oder die operative Therapie mittels einer Liposuktion, also einer Fettabsaugung. Beides bedeutet einen Kampf mit den Krankenkassen. Aber erst einmal von Anfang.

Vom schlanken Kind zur mopsigen Eleve

Ich war ein sehr schlankes, gar ein dünnes Kind. Ich erinnere mich an Szenen, bei denen meine Eltern mir mit dem Löffel hinterhergerannt sind, dass ich bloß esse. Meine Großeltern waren stets besorgt, dass mir etwas fehlen könnte – bis die Pubertät kam. Ich habe im Alter von vier Jahren angefangen Ballett zu tanzen, war sogar recht talentiert und kam in eine Leistungsklasse und von einem Sport- und Ballettinternat war die Rede. Nur stach ich plötzlich neben den ganzen anderen Mädels hervor: Ich hatte deutlich dickere Oberschenkel als der Rest meiner Ballettklasse und auch neben meinen Mitschülerinnen fiel ich auf. Plötzlich hänselten mich alle, dass ich zu dick sei, und die Hauptrollen im Ballett hatten auch schon längst andere, dünnere Mädchen bekommen. Ich war verzweifelt. Mit 12 Jahren machte ich meine erste Diät.

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Eine Diätkarriere im Teenageralter

Dass Diäten nichts bringen, ist wissenschaftlich längst bewiesen. Und so hungerte ich mich schon in Teenagerjahren runter, um danach doch wieder zuzunehmen. Mit 14 nahm ich Tabletten, die im Magen aufquellen, um den Appetit zu zügeln. Low Carb, No Carb, Weight Watchers, Montignac, Glyx, Atkins, Trennkost – bis ich volljährig war, hatte ich all diese Diätformen einmal ausprobiert. Zusätzlich zu meinen Beinen entdeckte ich auch, dass meine Arme überdurchschnittlich breit waren. Tanktops waren seit jeher tabu. Und auch mein Hautbild veränderte sich. An die Cellulite an den Beinen hatte ich mich gewöhnt, aber Dellen an den Armen? Ich widerte mich an. Denn ich dachte, ich bin einfach zu blöd und zu faul zum Abnehmen.

Hosen, die am Ende des Tages nicht mehr passen

Im Laufe der Jahre gab ich das Tanzen auf. Ich studierte und lebte mehr oder weniger damit, immer mal wieder fiese Gewichtsschwankungen zu durchlaufen. Kurz vor meiner Periode brachte ich gerne einmal vier Kilo mehr auf die Waage als unmittelbar danach. Und auch sonst gab es Phasen, in denen ich mal schlanker und mal weniger schlank war. Als ich meinen ersten Job anfing, merkte ich, dass mir die Hosen am Ende eines langen Arbeitstages zu eng wurden und kaum noch zugingen. Ich merkte, wie ich Wasser einlagerte und lange Spaziergänge fühlten sich an wie ein Marathon. Ich hatte danach oft schmerzende Beine und war schlapp. Sobald ich etwas schneller gehen oder gar rennen musste, hatte ich ein Stechen in den Waden und manchmal machten die Beine einfach zu, so dass ich stehen bleiben oder mich kurz hinsetzen musste. Ich vermutete, dass ich Wasser in den Beinen einlagere und ging zu meiner Hausärztin, um ihr das Problem zu schildern: Ich solle weniger enge Hosen tragen und auf meine Verdauung achten, dann fließe auch die Lymphe besser ab und das Wasser lagere nicht ein, so ihr Rat. Google spuckte mir bei meiner Suche hinterher die Krankheit Lipödem aus. Das kann es nicht sein, dachte ich, und schloss den Browser.

Ich wollte meine Beine abschneiden

Irgendwann kam eine Zeit, da schaute ich mich im Spiegel an und wollte einfach nur meine Beine abschneiden. In den Medien sprachen immer mehr Frauen vom Lipödem und nun konnte ich auch meine Augen nicht mehr davor verschließen. Blaue Flecke aus unerfindlichen Gründen, hohe Berührungsempfindklichkeit, überproportionale Gliedmaßen, aber ein schlankes Gesicht und eine schmale Taille, schwere Beine, Sport treiben fällt schwer. In meiner Instagram-Bubble stieß ich auf eine Ärzteliste und fand einen vielversprechenden Arzt in meiner Heimatstadt Mainz, bei dem man auch online Termine ausmachen konnte. Wartezeit waren rund vier Monate, aber das war man ja bereits von anderen Ärzten und Ärztinnen gewöhnt.

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Die Diagnose

Als ich dort vorsprechen wollte, sah ich Patientinnen mit der sogenannten Elefantitis, die schon an Krücken gehen mussten. Ich fühlte mich schlecht und dachte: "Der lacht mich aus und schickt mich weg". Es kostet viel Überwindung, zu einem Arzt zu gehen und zu sagen: "Ich glaube, ich bin nicht dick, sondern einfach nur krank". Denn die Gesellschaft lehrt einen immer wieder, dass dicke Menschen faul und undiszipliniert sind, sie nur Ausreden suchen. Und da gibt es auch Ärzte, die das Lipödem als Krankheit nicht anerkennen und zu ihren Patientinnen sagen: "Sie sind einfach nur fett". 

Doch ich hatte Glück. Dr. Bensch untersuchte mich ganz wertfrei. Als ich bei einem Kneiftest in die Beine laut aufschrie, sagte er schon ganz nüchtern, dass diese Reaktion für die Krankheit spreche. Ein Ultraschall der Beine und der Arme gab dann den Beweis: Ich hatte Lipödem. Ich wusste erst einmal gar nicht, was ich mit dieser Diagnose anfangen sollte und taumelte mit zwei Rezepten in der Hand aus der Praxis. Einmal für die Kompressionsversorgung und für die manuelle Lymphdrainage gegen die Wassereinlagerungen. Zwei Mal die Woche 60 Minuten. Mein ganzes Leben lang.

Die Schmerzen wurden unerträglich

Ein Phänomen, das viele Lip-Patieninnen beschreiben ist, dass nach der Diagnose die Schmerzen schlimmer werden – und genau das war bei mir der Fall. Ich achtete plötzlich darauf, ob meine Beine schmerzten. Als ich dem Schmerz Raum gab, wurde er unerträglich und trieb mich in den Wahnsinn. Ich musste täglich Kompressionswäsche tragen. Diese bekommt man maßangefertigt im Sanitätshaus. Ironischerweise trug ich nun spack sitzende, einengende Strumpfhosen. Das gleiche gab es noch mal als Bolero für die Arme.

Jeder Besuch im Sanitätshaus ist frustrierend. Erstens wird immer verglichen, ob der Umfang nun zu oder abgenommen hat. Zweitens gibt es immer Ärger mit den Rezepten. Denn eine Strumpfhose kostet zwischen 600 und 800 Euro und die Krankenkassen wollen erst einmal prüfen, ob man nicht doch einfach nur zu fett ist. Dafür schicken sie bei der ersten Versorgung erst einmal alles an den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, kurz MDK genannt. Er prüft anhand von Bildern und Berichten des Arztes, ob man wirklich an einem Lipödem leidet.

Wer das so überprüft? Manchmal ein Augenarzt, manchmal eine Allgemeinmedizinerin. Alles, nur keine Fachärzte. Und die machen so manchen Patientinnen das Leben schwer. In meinem Fall dauerte es sechs Wochen, bis ich eine Zusage hatte. Zwei Versorgungen stehen mir im Jahr zu. Wenn man bedenkt, dass diese täglich getragen und gewaschen werden müssen, ist das nahezu nichts. Viele Frauen stellen sich jeden Abend hin und waschen ihre Strumpfhosen aus, werfen sie in die Maschine zum Schleudern und hoffen darauf, dass sie am nächsten Tag trocken sind. Mir persönlich nimmt das die Lebensqualität und die Schmerzen werden durch das Tragen gerade einmal minimal verbessert.

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Der Weg zur Operation

Für mich war klar, dass ich mich operieren lassen möchte. Viele Frauen haben Angst vor so einem Eingriff. Eine Lipödem-OP unterschiedet sich von der klassischen Fettabsaugung. Hier besteht die Gefahr, dass die Lymphbahnen beschädigt werden können und das würde die Symptome nur verschlimmern. Also muss man zu einem Spezialisten, der zirkulär, um die Lymphbahnen herum, absaugt. Im besten Fall muss alles kranke Fett weg. Aber auf den ersten Blick kann man das gar nicht so unterschieden, welches Fett am Körper denn nun krank oder gesund ist. Das Ergebnis wird nie wirklich so gleichmäßig, wie bei einer Schönheits-OP. Den meisten Patientinnen, wie auch mir, ist das fast schon egal. Ich wollte einfach nur meine Schmerzen loswerden. Dass die Beine dann auch etwas schlanker aussehen, ist ein positiver Nebeneffekt.

Also ging ich zu meinem Arzt des Vertrauens, der auch operiert und ließ mich beraten: 5500 Euro pro OP, zwei für die Beine und eine für die Arme.

Auf eine Übernahme durch die Krankenkasse kann ich lange warten: Übernommen wird eine Operation nur, wenn das schlimmste Stadium, also Stadium III erreicht wurde. Dazu muss man aber einen BMI von unter 35 haben aufweisen, die Frau darf also nur geringfügig übergewichtig sein. Völliger Unsinn. Eine Frau mit einer fortgeschrittenen Fettverteilungsstörung ist automatisch übergewichtig. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) hat nach jahrelangem Kämpfen und Petitionen in diesem Jahr mit der "Lipleg-Studie" begonnen, um herauszufinden, ob eine Liposuktion bei Lipödem wirklich hilft. Ergebnisse werden ab 2024 erwartet und danach kann man vielleicht hoffen, dass die Krankenkasse die kostspielige Operation übernimmt. Schon jetzt gab es zeitliche Verzögerungen wegen der Coronapandemie, auf zeitnahe Studienergebnisse brauchen betroffene Frauen also nicht hoffen. Bis dahin übernimmt die Krankenkasse aber weiterhin zwei Mal jährlich 635 Euro für meine Strumphose und zwei Mal wöchentlich die Lymphdrainage für 50 Euro pro Behandlung. Die 11.000 Euro für die Operationen an den Beinen habe ich jedoch selbst getragen.

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Kein Spaziergang

Die Krankenkassen argumentieren, dass eine Fettabsaugung eine Schönheits-OP ist und ich kann mit voller Überzeugung sagen: Diese Operation ist kein Spaziergang. Mir wurden erst die Beinaußenseiten und dann die Beininnenseiten jeweils im Dämmerschlaf operiert. Zunächst bekam ich eine sogenannte Tumeszenz-Lösung injiziert. Sie löst die Fettzellen auf und wirkt gleichzeitig als Lokalanästhesie. Eine Stunde später wachte ich in einer Kabine auf und hatte pralle Beine, die die einer Melone glichen und eiskalt waren. Mit beinahe platzenden Stampfern klapperte ich eine weitere Stunde mit den Zähnen, denn ich fror – trotz Decke und Heizbelüftung. Danach durfte ich wie eine Ente in den Operationssaal zurück watscheln, wo mir dann alles abgesaugt wurde. Zwischendrin wurde ich geweckt und sollte mich selbst umdrehen.

Als ich das letzte Mal aufwachte, merkte ich, wie mir die Einstichlöcher zugenäht wurden, während eine Physiotherapeutin eine Lymphdrainage an mir durchführte und mir danach die Beine verband. Bei der zweiten Operation liefen mir noch auf dem Tisch die Tränen – die Schmerzen waren schier unerträglich und ich wusste, wie lange der Heilungsprozess dauert. Der ganze Frust wegen der Schmerzen, meines Aussehens und wegen der Kosten kamen einfach hoch und ich heulte ohne Kontrolle darauf los.

Ich bin dennoch froh, diesen Weg gegangen zu sein, denn meine Schmerzen haben sich deutlich verbessert, auch wenn ich noch immer auf die Kompression und die Lymphdrainage angewiesen bin. Die Diagnose Lipödem ist nah an der Hölle, nicht nur wegen der Schmerzen, sondern auch, weil einem sinnvolle Hilfe verwehrt oder sehr schwer gemacht wird – und das, obwohl es sich eigentlich auf lange Sicht rechnen würde.

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