Hauptsache, die Frisur sitzt! Was Schönheit heute bedeutet – und wie wir uns von gesellschaftlichen Idealen lösen

Wer schön sein will, muss leiden, heißt es. Getreu diesem Motto unterziehen sich immer mehr Menschen aufwendigen Schönheitsoperationen. Dann wird die krumme Nase – ein Familienmerkmal – gegen eine zierliche Nase eingetauscht, die Falten auf der Stirn, die vom bisherigen Leben erzählen, werden in jugendliche Haut verwandelt und das Bauchfett, das an die letzte Schwangerschaft erinnert, mal eben abgesaugt – übrig bleibt ein flacher Bauch. Und das sind nur die harmloseren Methoden, mit denen vor allem Frauen versuchen, dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen. 

Der Gang zum Schönheits-Doc ist schon lange kein Phänomen der älteren Generation mehr, eine aktuelle repräsentative ZDF-Umfrage unter 25- bis 34-Jährigen zeigt, dass 42 der Befragten grundsätzlich offen für eine entsprechende Operation sind, fragt man nur die Frauen, sind es mehr als 50 Prozent. Es scheint beinahe so, als habe der gesellschaftliche Trend zur Selbstoptimierung einen neuen Höhepunkt erreicht. Einer Statistik der Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen (VDÄPC) zufolge gab es 2022 bereits 93.853 ästhetische Operationen und damit einen Anstieg von 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und seitdem steigt die Nachfrage weiter, Schätzungen gehen von 400.000 bis 700.000 Eingriffen pro Jahr aus – in Deutschland. 

Hauptsache individuell und schön

Aber warum sind immer mehr Menschen offenbar der Meinung, nicht schön genug zu sein? Und was bedeutet Schönheit überhaupt? Fragen, mit denen sich die Psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin Ada Borkenhagen bereits seit Jahren beschäftigt. Sie forscht und lehrt an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg zu unserem Umgang mit Schönheit. Sie ist sich sicher: Die Bedeutung von Schönheit nimmt generell zu. Im Gespräch mit dem stern sagt sie dazu: "Der Grund dafür liegt sicherlich in der Individualisierungstendenz unserer westlichen Gesellschaften." 

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Ein Phänomen, das wir alle kennen: Wir wollen möglichst unabhängig leben, uns selbst verwirklichen und nicht mit anderen in eine Schublade gesteckt werden. Die Kernbotschaft: Jeder ist einzigartig. Und das stimmt im Grunde auch. Allerdings führt das laut Borkenhagen auch dazu, dass wir unsere Identität heutzutage nicht mehr so sehr über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht oder Gruppe definieren, sondern zunehmend über unser Aussehen. Und weil es in westlichen Gesellschaften oft um Leistung geht, entsteht auch hier eine Art Wettrennen: schön, schöner, am schönsten. 

Aber wer bestimmt eigentlich, was schön ist? Laut Borkenhagen gibt es unterschiedliche Attraktivitätsparameter, die uns dahingehend unterbewusst beeinflussen. "Ein gewisses Maß an Symmetrie zum Beispiel finden wir anziehend, allerdings auch keine vollständige." Der Grund: Perfektion wirkt für uns unnatürlich, weil niemand von Natur aus ein komplett symmetrisches Gesicht hat. Attraktivitätsforscher Martin Gründl ergänzt in einer wissenschaftlichen Publikation außerdem weitere Merkmale, die allgemeinhin als schön gelten: Gesundheit, Jugendlichkeit und geschlechtstypisches Aussehen. 

Aussehen wie Kate Moss oder die Kardashians

Soweit jedenfalls die Theorie. In der Realität erleben wir aber, dass Schönheit eben doch im Auge des Betrachters liegt – zumindest, wenn es darum geht, mit welchen Menschen wir eine Beziehung eingehen, welche Menschen zu Freunden werden und wem wir unser Vertrauen schenken. Wir leben oft eine andere Wahrheit, getreu dem Motto: Jeder Mensch ist auf seine eigene Art und Weise schön. 

Und doch kennen wir sie alle, die Heidi Klums, Kim Kardashians oder Kate Mosses dieser Welt, die uns morgens ernüchtert in den Spiegel schauen und mit einer ordentlichen Portion Selbstzweifel in den Tag starten lassen. Noch immer zeigen uns Medien, wie die Frau und der Mann von heute auszusehen haben, wenn sie jemand sein wollen. Und meistens sind es eben dann doch die Maße, die alle aus dem gleichen Katalog für Perfektion zu kommen scheinen: Frauen bitte schlank und kurvig, Männer bitte muskulös und groß. 

"Heute finden eben außerdem viele das Kindchenschema bei Frauen attraktiv mit großen Augen, kleiner Nase und Schmollmund", ergänzt Psychoanalytikerin Borkenhagen gegenüber dem stern. Das liege unter anderem auch an dem starken Einfluss von Social Media auf unseren Blick auf die Welt. Die Beauty-Filter von Instagram, TikTok und Co. prägen ein unrealistisches Bild, was sich dann wiederum in unserem Schönheitsempfinden niederschlägt. Borkenhagen erklärt das so: "Im Internet sehen wir viele Frauen, die ihre Augen vergrößert haben und ihr Gesicht weichzeichnen, um jünger und kindlicher zu wirken. Und je öfter wir so etwas sehen, desto normaler kommt es uns vor, dass Frauen so aussehen."

Und das fängt tatsächlich schon früh an: Laut einer repräsentativen YouGov-Umfrage im Auftrag des AOK-Bundesverbandes unter 14- bis 30-Jährigen hat die Nutzung von sozialen Netzwerken erhebliche Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung und das Körperbild von Heranwachsenden. Demnach verspüren 40 Prozent der jungen Menschen durch den Konsum von Social Media einen hohen Druck, besser auszusehen und erfolgreicher sein zu müssen. 

Wem der Druck zu Kopf steigt, der klopft dann beispielsweise bei Felix Graf von Spiegel an. Der Schönheitschirurg hat mit dem stern über seinen Job gesprochen – und sieht die Entwicklungen durch Social Media in seiner Branche durchaus kritisch. "Die Jüngeren sind sehr an Social Media orientiert und davon beeinflusst. Sie empfinden ein Körperbild als schön und normal, das keinesfalls normal ist, sondern durch Eingriffe erzielt wurde und wollen dann auch so aussehen." Das führt mitunter dazu, dass sie ihr eigenes Spiegelbild nicht mehr mögen. 

Wenn die Sucht nach Schönheit krank macht

Und das kommt gar nicht mal so selten vor. Die bereits erwähnte ZDF-Umfrage zeigt, dass mehr als jeder Fünfte der Befragten psychisch unter seinem Aussehen leidet (22,4 Prozent). Im schlimmsten Fall kann das Ganze pathologische Züge annehmen. In der Fachsprache nennt man das Ganze Dysmorphophobie – eine gestörte Selbstwahrnehmung. Meistens tritt die schwere psychische Erkrankung im jungen Alter, oft während der Pubertät, auf. Betroffene haben objektiv ein normales Erscheinungsbild, empfinden sich selbst aber als hässlich oder gar entstellt. Der Fokus auf diese vermeintlichen Makel nimmt Überhand und wird durch den Vergleich mit vermeintlich makellosen Menschen verstärkt. 

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Ein Phänomen, das laut einem, Forschungsteam der Boston University School of Medicine durch Beauty-Filter zumindest gefördert wird. Demnach haben Fotofilter eine negative Auswirkung auf die Selbstwahrnehmung und schüren bei regelmäßiger Anwendung starke Selbstzweifel, die Unzufriedenheit mit dem eigenen Spiegelbild sinkt und der Gang zum Schönheitsdoc wird immer realistischer. 

Laut Psychoanalytikerin Borkenhagen kann das in manchen Fällen aber sogar ratsam sein: "Schönheitsmedizinische Maßnahmen können auch dazu dienen, mit sich selbst ins Reine zu kommen, also die Selbstakzeptanz zu erhöhen", erklärt sie im Gespräch mit dem stern. "Wenn ich ein bestimmtes Idealbild von mir habe und mich diesem Bild durch eine Operation annähere, dann werde ich mich wahrscheinlich auch mit mir in größerer Übereinstimmung erleben, weil sich mein Ideal-Ich und mein Real-Ich einander angenähert haben."

Die Grenze zwischen gesundem Optimierungswillen und krankhafter Selbstverachtung sind dabei allerdings fließend. Laut Borkenhagen ist es vollkommen normal, mit einzelnen Körperteilen unzufrieden zu sein und diese gegebenenfalls operativ anpassen zu lassen. Sobald man aber krampfhaft versucht, wie eine andere Person auszusehen, sollte man sich Gedanken machen und statt einer Schönheitsklinik vielleicht über den Gang zu einem Psychotherapeuten nachdenken.

Und auch sonst sollte es nicht die Schönheit sein, der wir die oberste Priorität in unserem Leben einräumen. Viele Menschen denken, wenn sie schön sind, führen sie auch automatisch ein glückliches Leben. Aber Borkenhagen ist sich sicher: "Das, was Menschen tatsächlich glücklich macht, ist etwas anderes: erfüllende Beziehungen." Und die verhindern wir sogar, wenn wir zu sehr auf unser Aussehen fokussiert sind. "Wenn ich die ganze Zeit nur darauf achte, dass ich möglich schön aussehe, dann baue ich eine Mauer um mich herum und kann mich nicht auf mein Gegenüber einlassen, ergo nicht in Verbindung zu anderen Menschen treten." Manchmal lohnt sich also auch ein bisschen mehr Mut zur Hässlichkeit. 

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