Erste Großstadt verhängt Ausgangssperre: Warum wir jetzt alle auf Freiburg schauen sollten

Dieser Text ist eine Liebeserklärung. An das Bächle. An die Schauinslandbahn. An guten Kaffee. An die große Kunst der Gelassenheit. Nirgendwo sonst leben so viele Menschen, die diese Kunst beherrschen, wie in Freiburg. Diese Fähigkeit wird nun noch wichtiger werden. Dass ausgerechnet Freiburg als erste Großstadt Deutschlands im Zuge der Corona-Krise eine Ausgangssperre verhängt, kann niemanden unberührt lassen, der auch nur einen Tag dort verbracht hat.

“Betretungsverbot”, so heißt offiziell das, was für alle Freiburger ab diesem Samstag gilt. Dabei handelt es sich ausdrücklich nicht um eine Ausgangssperre, betont die Stadt am späten Donnerstagabend noch in ihrer offiziellen Mitteilung. Ein schlechter Witz. Ab diesem Samstag ist in Freiburg so ziemlich alles verboten, was Freiburg ausmacht: der Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen, der Ausflug mit den Kindern zur nächsten Schaukel, mit der ganzen Familie in großer Runde durch den autofreien Stadtteil Vauban schlendern. Draußen sein. Selbstbestimmt sein.

Oberbürgermeister muss den Freiburgern die Freiheit nehmen

Knapp 230.000 Einwohner sind davon betroffen. Nach Mitterteich in Bayern (etwa 7000 Bürger) und einigen kleineren Kommunen ist Freiburg die erste Großstadt in Deutschland, in der das Leben der Menschen nun massiv eingeschränkt wird. Und damit ist nicht gemeint, sich beim Toilettenpapiereinkauf begrenzen zu müssen oder das Homeoffice so herzurichten, dass die Kollegen beim Video-Telefonat nicht geschockt sind von der privaten Unordnung.

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Das Freiburger Betretungsverbot sei eine Fürsorgemaßnahme, betont der parteilose Oberbürgermeister. Noch nicht einmal zwei Jahre ist Martin Horn im Amt. Der Überraschungssieg bescherte ihm 2018 den inoffiziellen Titel des jüngsten Oberbürgermeisters einer Großstadt. Seitdem betrachten ihn die Freiburger mit wohlwollender Skepsis. Nach 16 Jahren mit einem erfahrenen Grünen-Politiker als Stadtoberhaupt, mussten sich manche an einen 35-jährigen Politiker, der schon mal auf Instagram seine bunten Socken postet, erst gewöhnen. Jetzt muss Martin Horn für Freiburg die, laut Bundeskanzlerin Angela Merkel, „größte Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg“ managen. Er muss den Freiburgern die Freiheit nehmen.

Anlass für die Entscheidung, die Horn getroffen hat, ist die dramatische Lage in der angrenzenden Region Grand-Est in Frankreich, zu der auch das Elsass gehört. Freiburg und sein Umland liegen in einer besonders gefährdeten Region, auch die benachbarte Schweiz ist stark betroffen. Die Nähe zur Grenze, der kurze Weg in den Ski-Urlaub. Das, was Freiburg unter vielen anderen Dingen so lebenswert macht, wird der Stadt jetzt zum Verhängnis.

Unter der Ignoranz Einzelner muss jetzt die ganze Stadt leiden

Ausschlaggebend war aber auch, dass sich einige Menschen nicht an das gehalten haben, was die Mehrheit der Freiburger im Alltag leben: Solidarität und Zusammenhalt. Bereits vor knapp einer Woche haben die Stadt und die benachbarten Landkreise die Durchführung aller Veranstaltungen ab 50 Teilnehmer untersagt. Doch immer wieder meinten Menschen, sich nicht an diese Allgemeinverfügung halten zu müssen. Gerade bei den frühlingshaften Temperaturen zogen viele Bürger es vor, ihre Freizeit im Freien auf öffentlichen Plätzen, in Parks und Grünanlagen zu verbringen. Ohne Mindestabstand zueinander. Ohne über die Folgen nachzudenken. Coronapartys wurden gefeiert. Unter der Ignoranz einiger weniger muss jetzt eine ganze Stadt leiden.

Coronakrise

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Eine Stadt, in der selbst ein 24-Stunden-Zwischenstopp zum Kurzurlaub wird. Zwei bis drei Mal im Jahr, wenn nichts mehr geht. Im Schwarzwald durchatmen. Dort, wo Freundschaften halten, auch wenn zwischen Dreisam und Elbe inzwischen 800 Kilometer liegen. Durch die alten Torbögen die Innenstadt betreten, einkaufen und Kulinarisches entdecken, in den vielen kleinen inhabergeführten Läden. Die Produkte meistens regional, häufig bio, schon vegan, bevor das im Rest von Deutschland Trend wurde.

Freiburger Kinder wachsen draußen auf

Wer sich mit Familien aus Freiburg unterhält weiß, die Nerven lagen schon vor der Ausgangssperre blank. Freiburger Kinder wachsen draußen auf. Die Matschhose ist das wichtigste Kleidungsstück. Die Mieten sind beinahe so hoch wie in Hamburg oder Berlin. Wer bezahlbares Eigentum sucht, muss schon weit an den Stadtrand ziehen und all den Komfort der zentralen Innenstadt, die von allen Seiten gut erreichbar ist, hergeben. Die Wohnung in der Stadt mit täglichen Ausflügen in die Natur ist da der perfekte Kompromiss. Fünf Wochen, in denen die Kita geschlossen hat, können lang werden. Zwei Wochen Ausgangssperre dürften für Freiburger Kinder ein Jahrhundert bedeuten. Für Eltern ist es Krieg.

Weil Menschen nicht nachgedacht haben. Weil Partys gefeiert wurden. Als alle schon wussten, was die Folgen sein würden. Dass Menschen sterben, wenn nicht alle ihr Verhalten ändern.

Für die vielen Kleinbetriebe, die Freiburger, die sich Existenzen aufgebaut haben, sind die wirtschaftlichen Folgen noch kaum zu ermessen. Viele werden um ihre Existenz kämpfen müssen.

Was bleibt für den Rest der Deutschen? In Dortmund, Hamburg oder Berlin? In Leverkusen, wo am Freitag ebenfalls die Stadt Treffen von zwei oder mehr Personen im Freien verboten hat. Hinschauen. Und: Bitte nicht nachmachen. Schon nächste Woche könnte das Freiburger Beispiel Schule machen. Unser Verhalten an diesem Wochenende wird darüber entscheiden. So schwer ist es nicht. Abstand halten, vernünftig sein, menschlich sein.

Und das Internet nutzen: viele Freiburger Produzenten und Gastronomen, die ihre Geschäfte schließen müssen, sind im Internet präsent. Auch die kleinen bayrischen Orte, in denen die allerersten Formen von Ausgangssperren verhängt wurden, sind digital erreichbar. Einfach mal einen solidarischen Gruß rüberschicken. Oder den Onlineshop mit einem gefüllten Warenkorb verlassen. Die erste Kaffeelieferung dürfte schon in wenigen Tagen in Hamburg sein. Einen wachen Verstand können wir im Moment alle gebrauchen.

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