Was geschah im März in Ischgl? Oder besser: Was geschah nicht? Der Wintersportort in Tirol wurde seinerzeit zu einem der Coronavirus-Hotspots in Europa. Nach dem Sars-CoV-2-Ausbruch dort brachten Urlauber den Erreger mit in ihre Heimatländer. Infektionen in etlichen Ländern des Kontinents waren die Folge – mehr als 6000 Menschen aus 45 Staaten haben sich inzwischen bei einem Verbraucherschutzverein gemeldet, der ihre Interessen vertreten will.
Ischgl-Expertenkommission sieht Fehler
Von Anfang an stand der Verdacht im Raum, dass die österreichischen Behörden zu langsam reagiert haben, um so den Profit der Tourismuswirtschaft nicht zu gefährden. Eine unabhängige Expertenkommission ist dieser und anderen Fragen in den vergangenen Monaten nachgegangen, um zu klären, welche Fehler im Zuge des Coronavirus-Ausbruchs in Ischgl gemacht wurden. Soviel vorweg: Dieser Verdacht bestätigte sich nicht. Dennoch zeigen die Autoren der Untersuchung schwere Versäumnisse beim Krisenmanagement in Ischgl auf.
Ronald Rohrer, früherer Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs der Republik Österreich, hat die Kommission geleitet. Ihr Auftrag: eine "umfassende, transparente und unabhängige Evaluierung des Managements der Covid-Pandemie in Tirol" zu erstellen. 53 Zeugen haben die Experten dazu gehört, und fast 6000 Seiten Akten ausgewertet.
Am Montag stellten Roher und seine Mitstreiter ihre Arbeit in Innsbruck vor – und zeigten auf, woran es im März in Ischgl unter anderem haperte:
- Skisaison zu spät beendet: Nach Bekanntwerden der ersten Coronavirus-Infektionen in Ischgl am 5. und 6. März lief der Wintersportbetrieb noch eine Woche ungehindert weiter. Eigentlich hätten die Skilifte schon am 12. März gestoppt werden sollen. Weil die entsprechende Verordnung jedoch zu spät ausgehängt worden war, standen die Lifte erst einen Tag später still. Auf diesen einen Tag kam es jedoch laut Expertenkommission nicht an – der Stopp des Betriebs hätte demnach deutlich früher erfolgen müssen. Die avisierte Beendigung der Wintersportsaison am 12. März "war aus epidemiologischer Sicht falsch", stellen die Autoren fest. "Eine richtige Einschätzung des Infektionsverlaufs" hätte dazu führen müssen, dass spätestens am 9. März alle Skilifte stillgestanden und alle Après-Ski-Bars geschlossen hätten. Dies unterblieb. Stattdessen kamen sich Tausende Urlauber weiterhin in den Bussen und Liften nahe oder feierten weiter eng an eng Après-Ski.
- Falsche Informationen: Am 5. und am 8. März – nach Bekanntwerden des ersten Coronavirus-Falls im Après-Ski-Lokal "Kitzloch" – veröffentlichte die Landessanitätsdirektion Tirol jeweils eine Pressemitteilung, in der sie die Gefahr für andere Menschen heruntergespielt habe: Es erscheine "aus medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Ansteckungen gekommen ist", hieß es. Und: "Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich." Das Urteil der Expertenkommission: Die Informationen des Bundeslandes "waren unrichtig", der Ausbruch im "Kitzloch" sei fälschlicherweise als als abgrenzbares Ereignis eingeschätzt worden.
- Überstürzte Abriegelung: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz kündigte am 13. März auf einer Pressekonferenz an, das Paznauntal und damit auch Ischgl unter Quarantäne zu stellen – obwohl dies überhaupt nicht in die Zuständigkeit des Regierungschefs falle, sondern in jene der Bezirksverwaltungsbehörde. Entsprechend überrumpelt seien die Behörden vor Ort gewesen. "Es hätte (…) im Vorfeld der Ankündigung die Lage in Tirol sondiert und mit den Tiroler Behörden das Einvernehmen hergestellt werden müssen", stellen die Experten fest. Die Folge der Order aus Wien: "Fluchtreaktionen" der Touristen und Chaos bei der Abreise. "Ein kontrolliertes Abreisemanagement (wäre) zu planen und umzusetzen gewesen." Die teils panikartigen Abreisen führten zu einer unkontrollierten Verbreitung des Virus in alle Himmelsrichtungen.
Covid-19-Maßnahmen in Österreich
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz: "Da gab es viele schlaflose Nächte"
- Veraltete Regeln: Das Epidemiegesetz Österreichs stamme aus dem Jahr 1950 und ist der Expertenkommission zufolge "veraltet". Es sei weder auf seine "Anwendbarkeit in Tourismusgebieten geprüft worden noch wurden rechtzeitig Schritte eingeleitet, das Gesetz den Gegebenheiten der heutigen Mobilität anzupassen", stellt das Gremium fest. Zudem habe das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz trotz frühen Wissens über die Ansteckungsgefahr seinen überarbeiteten Pandemieplan nicht veröffentlicht.
Trotz aller schweren Versäumnisse: Für den oft kolportierten Einfluss der Tourismus- und Seilbahnwirtschaft auf die Entscheidungen der Behörden gebe es keine Anhaltspunkte, stellt die Kommission fest. Und sie macht am Ende ihres fast 290 Seiten starken Abschlussberichts deutlich: "Verantwortungsträger und Mitarbeiter der Behörden des Landes Tirol haben sowohl auf Ebene des Landes als auch auf Ebene der Bezirke, oft unter großem Zeitdruck, in der beispiellosen Krisensituation ein großes Arbeitspensum bewältigt" – jedoch mit "folgenschweren Fehleinschätzungen".
Empfehlungen für Coronavirus-Pandemie
Die Expertenkommission hatte nicht den Auftrag, strafrechtliche Ermittlungen vorzunehmen oder über Schadenersatzansprüche von Geschädigten zu entscheiden – stattdessen gibt sie insgesamt mehr als 30 Empfehlungen ab, um zu verhindern, dass in der Pandemie erneut ein Coronavirus-Hotspot in den österreichischen Alpen entsteht. Sie reichen von der Forderung nach einem neuen Epidemiegesetz über die Einschränkung des Alkoholkonsums in den Skiorten bis hin zur Schulung von im Tourismus beschäftigten Menschen.
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