Nicht nur Frankreich ist erschüttert, Personen in ganz Europa zeigen sich schockiert über das Feuer in der Pariser Kathedrale. Psychiater und Trauma-Experte Thomas Loew erklärt, warum uns das Feuer in Notre Dame so berührt, obwohl es uns nicht zwingend persönlich betrifft.
Die einen weinten, die anderen beteten, als die 93 Meter hohe Turmspitze der Notre Dame in sich zusammenbrach. Als das Feuer ausbrach, befanden sich keine Personen mehr in der Pariser Kathedrale. Dennoch löste der Brand große Bestürzung aus.
„Das ist verrückt, ich kann es nicht glauben. Mir ist zum Weinen zumute“, sagt Nathalie, eine 50-jährige Französin. „Paris ist entstellt. Die Stadt wird nie wieder so sein wie zuvor“, meint Philippe, ein Mittdreißiger.
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Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) twitterte, „die brennende Notre-Dame trifft auch uns ins Herz“. Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte, es tue „weh, diese schrecklichen Bilder“ der brennenden Kathedrale zu sehen. Notre-Dame sei ein Symbol Frankreichs und der europäischen Kultur.
Die Bilder der brennenden Kathedrale machen Menschen weltweit betroffen. Doch warum geht nicht nur Parisern das Feuer in der französischen Metropole so nahe? Psychiater Thomas Loew kennt die Antwort: „Wir Europäer sind traumatisiert“.
Wir sind emotional vorbelastet
„Bei vielen tauchen sofort Assoziationen von schlimmeren Anschlägen auf. Das Feuer schockiert uns, es ist unkontrollierbar und unaufhaltsam. Wir Menschen haben Angst vor Feuer, das ist tief in uns verankert.“ Zuzusehen, wie sich die Flammen weiter ausbreiten, rufe bei vielen das Gefühl der Ohnmacht hervor.
Unterstützt werde dieses Trauma durch die ständigen Auseinandersetzungen mit dem islamistischen Terror. „In anderen Zeiten dachte man sich ‚Oh, es brennt!‘ – heute denkt man ‚Das ist ein Anschlag‘.“ Der Psychiater geht davon aus, dass unsere Fantasie auch unsere Gedanken präge. Wir seien emotional vorbelastet und verknüpften den Brand daher mit vergangenen, weitaus schlimmeren Erlebnissen.
Außerdem stellten wir unterbewusst schnell die Verbindung zu einem Bereich her, der uns persönlich beträfe. „Auch der Kölner Dom oder die Münchener Frauenkirche hätten brennen können. Kirchen prägen das Stadtbild, wir identifizieren uns damit.“
Kunst ist wertvoll
Zudem habe die Kunst und Kultur einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Loew meint: „Es laufen viele Dinge im Unterbewusstsein ab. In solchen monumentalen Bauwerken steckt die Leistung von Generationen. Es wurde über mehrere hundert Jahre an diesen Gebäuden gebaut, da steckt unendlich viel Human-Kapital drin.“
Vor historischen Leistungen Achtung zu haben, werde uns schon von Kindesbeinen an beigebracht. „Kinder bauen Burgen, sie werden in Museen und zu Sehenswürdigkeiten geführt. Ein Kind lernt: Das ist etwas wertvolles. Kunst hat einen Wert. Wenn Kunst jedoch zerstört wird, dann ist das etwas unwiederbringliches.“ dpa Als Notre Dame in Flammen stand, waren die Franzosen bestürzt,.
Persönliche Betroffenheit
Ein weiterer Punkt sind persönliche Erinnerungen. Paris ist eine Hauptstadt, eine Stadt voller Geschichte und Sehenswürdigkeiten. Notre Dame selbst zählt seit 1979 zum Weltkulturerbe der UNESCO. Pro Jahr besichtigen über 12 Millionen Touristen und Gläubige die Kathedrale. Auch Loew zählt dazu: „Ich war selbst schon in der Kirche und habe schöne Erinnerungen an diesen Tag. Als ich Notre Dame dann brennen sah, bekam ich plötzlich Angst.“
Dieses Gefühl der Beklommenheit, das viele in solchen Situationen verspüren, liege an der Ungewissheit und der Angst, etwas endgültig verpasst zu haben. „Mein erster Gedanke war: Mist, ich hatte mir doch vorgenommen, mit meinen Kindern dort hinzufahren. Kann ich das jetzt überhaupt noch?“
Bedeutung für das Christentum
Bei Notre Dame handelt es sich nicht nur um ein Bauwerk, sondern um eine Kirche. Sie ist ein Symbol für das Christentum, in Frankreich und in der ganzen Welt. Ein Sprecher der französischen Bischöfe bezeichnete Notre-Dame als „Hochburg des katholischen Glaubens“.
Auch der Vatikan äußerte sich bestürzt: „Der Heilige Stuhl hat die Nachricht des entsetzlichen Brandes, der die Kathedrale von Notre Dame, Symbol der Christenheit in Frankreich und der Welt, verwüstet hat, mit Schock und Trauer aufgenommen“, erklärte Papst-Sprecher Alessandro Gisotti.
Noch bis in die Gegenwart wurden Gottesdienste in der Kathedrale abgehalten. Auch am kommenden Ostersonntag, am 21. April, sollten dort mehrere Messen veranstaltet werden. Dass sich der Brand so kurz vor dem wichtigsten christlichen Fest ereignete, ist tragisch. „Man stellt schnell die Verbindung zur mutwilligen Zerstörung von Kirchen her“, meint Loew. „Solche Bauwerke sind zwar keine biologischen Wesen, fungieren aber als soziale und Kultur-schaffende Wesen. Um eine Gesellschaft ins Wanken zu bringen, gehört es also dazu, dass Kultur zerstört wird.“
Wiederkehr des Kriegs-Traumas
Während des zweiten Weltkriegs wurden auch in Deutschland zahlreiche Kirchen zerstört. „Vor 75 Jahren sah es in Bielefeld, Heilbronn und Nürnberg nicht anders aus, auch dort waren Kirchen ausgebrannt.“ Daher sei auch die Generation betroffen, die den Krieg miterlebt habe. „Neue Eindrücke werden mit alten Gefühlen und Erinnerungen in Verbindung gebracht. Die Menschen haben alte Traumata, die jetzt wieder neu aufkommen.“
Unterstützung beim Wiederaufbau
Durch den Einsatz von 400 Feuerwehrleuten konnte das Gebäude in seiner Gesamtstruktur erhalten werden. Außerdem retteten sie wichtige Kunstschätze und Reliquien: darunter die als Dornenkrone Jesu Christi verehrte Hauptreliquie der Kirche, das Altarkreuz und das Goldgewand König Ludwigs des Heiligen.
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron bestätigte den Wiederaufbau der Gotik-Kirche. Politiker aus ganz Europaversprachen ihre Unterstützung:
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer warb nach dem Brand für Engagement beim Wiederaufbau: „Wenn wir einen Beitrag leisten können, ganz persönlich, ganz individuell, dann sollten wir das tun", hieß es am Dienstag in einer Mitteilung auf dem Twitter-Kanal des CDU-Politikers.
Auch Kremlchef Wladimir Putin bot seine Hilfe an: „Er schlug vor, die besten Experten nach Frankreich zu schicken. Sie haben große Erfahrung in der Restaurierung von Weltkulturerbe“, teilte der Kreml in Moskau mit.
Noch in der Nacht ging die erste Großspendenzusage ein: Die Milliardärsfamilie Pinault, zu deren Firmenkonsortium unter anderem die Modemarken Gucci und Yves Saint-Laurent gehören, versprach 100 Millionen Euro für den Wiederaufbau. Nach der Feuerwehr schlägt nun wieder die Stunde der Kunstexperten und Restauratoren – nun in noch viel größerem Maßstab.
Psychologe Thomas Loew sagt: „Ich bin guter Dinge, dass Notre Dame wieder aufgebaut wird. Aber trotzdem wird es etwas anderes sein. Dieser Brand wird in ganz Europa nicht in Vergessenheit geraten.“
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