Deutschland streitet sich um Fahrverbote. Begründet werden diese mit der Stickoxid-Belastung. “Ob der Grenzwert bei 40 oder 100 Mikrogramm liegt, macht keinen Unterschied. Da gibt es keinen Toten mehr”, sagt der Lungenfacharzt Dieter Köhler. Doch mit seiner provokanten Meinung steht er weitgehend alleine da.
Wenn es nach der Bundesregierung geht, können Städte mit relativ geringen Überschreitungen des Grenzwerts für Stickoxide Fahrverbote für nicht verhältnismäßig erklären. Es geht um Städte mit Höchstwerten von bis zu 50 Mikrogramm, der Grenzwert liegt bei 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft.
Dieter Köhler hält diesen Grenzwert für maßlos überzogen. Mit seiner provokanten Meinung ist der Professor und Lungenfacharzt im Ruhestand immer wieder ein gefragter Interviewgast. Erst gestern war er zu Gast bei "Hart aber fair", wo er Fahrverbote ein weiteres Mal als "völligen Unsinn" und den Grenzwert als "Witz" bezeichnete. „Selbst, wenn er doppelt so hoch wäre, gibt es kein Gesundheitsrisiko.“ Das sei nun wirklich keine Gefahr. Bisher seien die Forscher in ihrem Elfenbeinturm gesessen. Jetzt werde das demaskiert und da müsse man sich spät aber eben jetzt Gedanken machen um die seit neun Jahren gültigen Gesetze.
Der ehemalige Präsident der Gesellschaft für Lungenheilkunde begründet seine Aussagen damit, dass der menschliche Körper selbst Stickstoffmonoxid herstelle und es gewohnt sei, mit solchen Stoffen umzugehen. Außerdem würde allein im Rauch einer Zigarette eine Millionen Mal mehr Feinstaub stecken.
Seine Berufskollegen und das Umweltbundesamt sehen das Thema dagegen ganz anders. Was steckt also hinter Köhlers Thesen?
These: Raucher atmen viel mehr Stickstoff ein und ihnen passiert nichts
Köhler vergleicht den Grenzwert im Straßenverkehr mit der Menge, die ein Raucher einatmet. Denn beim Verbrennungsvorgang entsteht aus Stickstoff Stickstoffdioxid. "Die Dosis ist im Vergleich zum Grenzwert tausendfach höher", sagt Köhler. Beim Inhalieren gelangten bis zu 1000 Mikrogramm NO2 in die Lunge. Das sei um ein Vielfaches schädlicher, als den ganzen Tag über an einem Verkehrs-Hot-Spot Abgase einzuatmen.
"Stickstoffdioxid tötet keine Gesunden, insofern stirbt man nicht akut am NO2, wenn man eine Zigarette raucht. Richtig wäre die Aussage, dass die städtische verkehrsbedingte Luftschadstoffbelastung, für die NO2 ein Marker ist, zu einer Lebzeitverkürzung zählt", korrigiert Dennis Nowak vom Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität München die These.
Auch der Bundesverband der Pneumologen hält dagegen, dass es sich bei der Schadstoffbelastung in Städten "um einen toxischen Mix aus gesundheitsgefährdenden Substanzen" handelt. "Gesundheitliche Auswirkungen nur auf einen Schadstoff wie Stickstoffdioxid zu beschränken, entspricht nie der realen Gesamtbelastung in verkehrsnahen Wohn- und Lebensbereichen."
These: Stickstoffdioxid im Verkehr ist ungefährlich
Die Gesundheitsgefahren durch Feinstaub und Stickoxide würden bewusst aufgebauscht, sagte Köhler außerdem bei einem Symposium zum Thema Autoabgase in Ludwigsburg. Die bisherigen Studien hätten allenfalls eine minimale Erhöhung des Gesundheitsrisikos an vielbefahrenen Straßen festgestellt. Und der Einfluss von Feinstaub und Stickoxid auf die menschliche Gesundheit sei minimal im Vergleich zu Faktoren wie Rauchen und Alkohol und Sport.
Einen gesunden Menschen werden die Abgase kaum beeinträchtigen. Aber wie steht es um die anderen? "Die Stickoxide aus Dieselmotoren sind starke Reizstoffe und Entzündungsstimulatoren für Atemwege", sagte Christian Witt, Professor an der Berliner Charité, beim Deutschen Lungentag. "Treffen die Schadstoffe auf eine bereits geschädigte Schleimhaut, wirken sie wie ein Brandbeschleuniger – Entzündungen werden angefeuert."
Die Erfahrung hat auch der Leverkusener Lungenarzt Norbert Karl Mülleneisen gemacht, der 2016 mit seiner Strafanzeige gegen die Autohersteller für Schlagzeilen sorgte. "Atemwegserkrankungen, Asthma und Atemwegsallergien nehmen nachweislich zu, insbesondere wenn Menschen nahe an den Hauptverkehrsstraßen wohnen", sagte Mülleneisen der „Rheinischen Post“. Er selbst stelle in seiner Praxis fest, dass die Zahl von Atemwegserkrankungen in Leverkusen zugenommen habe, die nicht auf Nikotin zurückzuführen seien. "Diese Patienten waren jedoch, oder sind noch, Feinstaub und Stickoxid an viel befahrenen Straßen ausgesetzt."
Grenzwerte als Schutzmaßnahme
Auch das Umweltbundesamt widerspricht Köhler. Umweltmediziner Wolfgang Straff sagte im "Heute Journal": "Die NO2-Grenzwerte gelten nicht nur für Erwachsene und völlig gesunde Menschen. Sie gelten für alle – auch für Schwangere und damit für ungeborene Kinder. Die Grenzwerte dienen der Prävention für die gesamte Bevölkerung."
Es gehe um den Schutz besonders empfindlicher Bevölkerungsgruppen, die an Asthma, COPD, koronarer Herzerkrankung oder Diabetes leiden, aber auch Schwangere und Kinder, besonders Kleinkinder im Kinderwagen, die sich damit auf Auspuffhöhe befinden.
- Feinstaub sind feine Partikel in der Luft, die nicht sofort zu Boden sinken, sondern eine gewisse Zeit in der Atmosphäre verweilen. Sie sind mit bloßem Auge normalerweise nicht zu sehen, werden bei bestimmter Witterung als Dunstglocke wahrgenommen.
- Bei der Partikelgröße PM10 kann der Feinstaub durch die Nasenhöhle in tiefere Bereiche der Bronchien eindringen.
- Die kleineren Partikel PM2,5 können bis in die Bronchiolen und Lungenbläschen vordringen.
- Ultrafeine Partikel mit einem Durchmesser von weniger als 0,1 µm kann sogar bis in das Lungengewebe und den Blutkreislauf eindringen.
- Je nach Größe und Eindringtiefe der Teilchen sind die gesundheitlichen Wirkungen von Feinstaub verschieden: Schleimhautreizungen, Entzündungen im Rachen, der Luftröhre und den Bronchien oder Schädigungen der Lunge.
(Quelle: Umweltbundesamt)
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These: Stickstoffdioxid ist keine Ursache für Erkrankungen
Köhler sieht keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass Stickstoffdioxid in dieser niedrigen Konzentration, wie sie durch den Straßenverkehr erzeugt wird, schädlich für den menschlichen Körper sein könnte. Es komme gar nicht erst in den Blutkreislauf.
Mit dieser Sicht steht er ziemlich alleine da. Beim Lungentag 2018 hob Joachim Heinrich vom Institut für Epidemiologie des Helmholtz-Zentrum München hervor: "Eine Bewertung gesundheitlicher Wirkungen darf nicht bei der Lunge und den Atemwegen als Zielorgane stehen bleiben und muss selbstverständlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen, vielleicht auch Diabetes, Demenz und kognitive Störungen einbeziehen. Es gibt keinen vernünftigen Grund die bestehenden Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid in Frage zu stellen."
These: Ob der Grenzwert bei 40 oder 100 Mikrogramm liegt, macht keinen Unterschied
Für den Lungenspezialisten Köhler sind die festgelegten Grenzwerte reine Willkür. "Ob der Stickstoffdioxid-Grenzwert bei 40 oder 100 Mikrogramm liegt, macht keinen Unterschied. Da gibt es keinen Toten mehr", sagte er in Stern TV.
Dem widersprechen die Autoren der europaweiten ESCAPE-Studie. Bei der Studie wurden die Längsschnittdaten von 300.000 Probanden analysiert und erstmals ein Zusammenhang zwischen der Exposition mit Feinstaub und Stickoxiden geografischer Daten gezogen. Was die Wissenschaftler dabei auch feststellten: Erhöht sich der Feinstaub um nur fünf Mikrogramm pro Kubikmeter, zeigten die Daten eine statistisch signifikante Zunahme der Sterblichkeit um sieben Prozent an, schreiben die Autoren in „The Lancet“. FOCUS Online Wetter-Alarm weltweit! TerraX-Legende Lesch erklärt, was uns noch retten kann
These: In Deutschland ist noch kein Mensch durch Stickoxide gestorben
"Die EU-Grenzwerte für Stickstoffoxid und Feinstaub seien in keiner Weise gesundheitsgefährdend, in Deutschland sei noch kein Mensch durch Stickoxide gestorben. Trotz Diesel", wird Köhler auf stern.de zitiert.
Das bestätigen auch die anderen Experten. Aber von ihnen hat dies auch niemand so behauptet. "Stickstoffdioxid ist ein Marker der verkehrsbedingten Luftschadstoffbelastung. NO2 ist nicht der Killer selbst. NO2 korreliert hoch mit der Partikelbelastung, diese ist der Killer. Wenn die Verkehrsbelastung reduziert wird, sinkt NO2, bleibt aber Marker und ist nicht Verursacher des Gesundheitseffektes", erklärt Dennis Nowak.
Laut einer Statistik der Europäischen Umweltagentur EEA kam es in Deutschland 2017 zu rund 54.000 bis 66.000 vorzeitigen Todesfällen durch Feinstaub, 12.000 bis 44.000 durch Stickoxide und 2200 durch Ozon.
Es gibt bei alldem auch eine gute Nachricht: Die Belastung der Luft mit Schadstoffen nahm in den vergangenen 25 Jahren laut Umweltbundesamt deutlich ab.
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