Können Sie das noch mal sagen? Der Cocktailparty

What? Was sagen die da? Manchmal, wenn ich so beim Bingewatchen auf der Seite liege, verstehe ich nicht mehr so gut, was die Figuren in meinem Fernseher sagen. Ein Ohr liegt auf dem Sofakissen und wird davon abgedeckt. Die verbliebene offene Hörmuschel kann dann manchmal der Konversation nicht mehr folgen. Das passiert vor allem bei schlechten Tonmischungen, wenn die Musik zum Beispiel im Verhältnis zum Dialog zu laut ist. Oder die Atmo, also die Nebengeräusche wie Straßenlärm oder Meeresrauschen, lauter dröhnt als die Interaktion der Protagonisten.

Christina Pohl wurde in dem Jahr geboren, in dem die USA Vietnam mit Napalm bombardierten. Sie suchte in ihrer Jugend Frieden in den Hippie-Höhlen von Kreta. Seit 1991 arbeitet sie als Redakteurin in der SPIEGEL-Gruppe.

Lina Moreno/ DER SPIEGEL

Dabei habe ich schon vor Jahren den Fernseher an meine Stereoanlage geklemmt. Als die Flatscreens die Röhrenfernseher verdrängten, fehlte den flachen Glotzen der Resonanzraum. Während sich optisch mit der HD-Entwicklung ganz neue Welten auftaten, verschlechterte sich der Sound massiv. Die Filme aus den neuen Flachfernsehern klangen plötzlich wie aus dem Dosentelefon.

Deswegen lausche ich seitdem nur noch über die Anlage, aber ich beobachte mich dabei, wie ich zunehmend den Lautstärkeregler nach rechts drehe. Ich fantasiere schon und sehe mich als schwerhörige Oma, die Besuch bekommt und es nicht merkt, weil der Fernseher, auf dem seit Stunden »The Crown« läuft, mit 98 Dezibel die gute Stube beschallt.

Aber ich traue mich nicht, ein Fachgeschäft oder gar einen Hals-Nasen-OHREN-Arzt für einen Hörtest aufzusuchen. Denn ich habe in meiner Jugend gesündigt. Meine erste Stereoanlage leistete ich mir mit zwölf. Der Rest der Familie teilte leider meinen Musikgeschmack nicht. Es kam zu einem Krieg der Lieder. Während ich auf meinem Plattenspieler meine erste Pink-Floyd-Scheibe »Ummagumma« immer und immer wieder abspielte, plärrten aus dem Wohnzimmer die Schlagersänger der Siebziger. Auf dem Flur battleten sich dann David Gilmour mit Marianne Rosenberg und Roger Waters mit Bernd Clüver. Ich verlor die akustische Schlacht und sparte für einen geschlossenen Kopfhörer. Damit konnte ich voll aufdrehen. Keine gute Idee, wie ich heute weiß.

Die feinen Sinneshaarzellen im Ohr sterben ab

Mein erstes großes Konzert fand 1980 statt. In der Eissporthalle von Kassel schaute und hörte ich Bob Marley zu, der ein Jahr später starb. Er war schon zu Lebzeiten eine Legende und wir gingen zum Konzert, ehrfürchtig wie andere Leute die Kirche betreten. Ich weiß noch, wie mich die mächtigen Boxentürme beeindruckten, aus denen die Musik so laut schallte, wie ich es noch nie vorher gehört hatte. Die Bässe massierten meine Magengrube und wummerten durch die hessische Mehrzweckhalle, sodass mir die Hässlichkeit des Ortes vollkommen entging. Die Musik donnerte durch Mark und Bein. Ich war allein vom Sound so breit, dass ich nicht mehr kiffen musste. Die Reggaemusiker auf der Bühne kannten die hässlichen Hallen schon und hatten wohl etwas dagegen tun müssen. Ihre glasigen Augen und das Dauergrinsen deuteten daraufhin. Jedenfalls war jedes zweite Wort von Bob Marley »Ganja«.

In der Jugend erlebt man vieles zum ersten Mal: den ersten Kuss, die erste Reise ohne Eltern. Wenn man die Marke 50 streift, geschieht auch viel Neues: die ersten Hitzewallungen, das erste künstliche Gelenk. Und einiges sieht man plötzlich anders. Warum früher trotzdem nicht alles besser war, davon erzählen an dieser Stelle unsere vier Kolumnistinnen und Kolumnisten im Wechsel. Alle Kolumnen finden Sie hier.

Es folgten Hunderte Konzerte, mehr als tausend waren es bestimmt seitdem. Motörhead und Aerosmith zum Beispiel, die damals damit angaben, die lautesten Bands der Welt zu sein. Ohrstöpsel zum Schutz davor in die Gehörgänge zu schieben, galt als feige. Zudem verstopfen sie den Musikgenuss und verschlumpfen ganze Frequenzbereiche, ich verweigere mich noch heute.

In meiner Studienzeit begann ich parallel für MTV zu arbeiten. Da war ich alle zwei Tage im Konzert, quasi dienstlich. Das war der geilste Job der Welt, aber ich war Dezibel-mäßig ständig dem Lärm einer Baustelle mit Presslufthammer ausgesetzt. Ich kann mich nicht erinnern, damals eine Unterweisung in Arbeitsschutz bekommen zu haben. Und diese komischen Konzert-Micky-Mäuse, die Kinder heutzutage zum Schutz des Gehörs tragen, hätte ich im Leben nicht aufgesetzt.

Ich habe außerdem nie die durchtanzten Techno-Nächte und Loveparades gezählt, die meiner Gehörgesundheit bestimmt auch nicht zuträglich waren. Das rächt sich jetzt wohl.

Die Spätschäden der konsumierten musikalischen Schallereignisse paaren sich vielleicht auch mit der Altersschwerhörigkeit, der Presbyakusis. Ab 50 nimmt die Hörfähigkeit eines Menschen ständig ab. Die feinen Sinneshaarzellen im Ohr sterben ab. Von außen nach innen, zuerst sind die hohen Töne dran. Ärzte sprechen vom sogenannten »Cocktailparty-Effekt«, wenn man den Gesprächen bei lauten Umgebungsgeräuschen nicht mehr folgen kann.



Ich brauche dringend einen Plan für die nächsten Jahre. So ein Hörgerät ist auch alles andere als sexy. Die Lauschhilfen sind zwar auf Minimaß geschrumpft, aber meist in diesem hautfarbenen Beige gehalten. Igitt! Ich werde mir wohl ein besonders auffälliges Exemplar, vielleicht in Rot, ins Ohr stecken und so tun, als wäre ich eine Agentin. Ich würde dann immer ganz geheimnisvoll in mein Handgelenk sprechen. Eine perfekte Tarnung!

Noch besser: Gestern habe ich einen Science-Fiction-Film gesehen, in dem die Menschen durch ein Virus erst den Geschmackssinn und dann das Gehör verloren. Alle lernten die Gebärdensprache. Damit könnte ich mich sogar unter Wasser verständigen.

Quelle: Den ganzen Artikel lesen