Multimedikation: Wer mehrere Arzneimittel einnimmt, sollte auch mögliche Neben- und Wechselwirkungen bedenken
Bunter Mix: Nicht alle Arzneien passen zusammen
Etwa jeder fünfte Bundesbürger hat einer aktuellen Analyse der Barmer Krankenkasse zufolge im Jahr 2016 fünf oder mehr Arzneimittel gleichzeitig eingenommen. Ein Grund: Mehr als 23 Millionen Deutsche leiden an mindestens fünf chronischen Erkrankungen. Vor allem ältere Menschen sind regelmäßig auf mehrere Medikamente angewiesen, beispielsweise um ihre Blutdruck-, Blutzucker- und Cholesterinwerte im Griff zu behalten. Experten sprechen in diesen Fällen von einer Multi- oder Polymedikation.
Die Gefahr dabei: Je mehr Wirkstoffe zusammenkommen, desto höher das Risiko, dass sie sich gegenseitig beeinflussen oder Nebenwirkungen auftreten. Der behandelnde Hausarzt hat das Problem zwar meist im Griff, weil er sowohl den Patienten mit seinem Gesundheitsstatus als auch die Medikamente kennt, die er ihm verschreibt. "Viele Patienten sind aber nicht nur bei einem Arzt, sondern bei mehreren in Behandlung. Die verschreiben dann Medikamente, von denen die anderen Ärzte nichts erfahren", sagt Apotheker Robert Schieber, der Mitglied im Vorstand der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg ist.
Allein im Fall der Barmer-Versicherten trifft das auf zwei Drittel zu. Vielen ist die Problematik dahinter nicht bewusst, oder sie sind beim Arztbesuch zu aufgeregt, um das Thema anzusprechen.
Riskante Kombinationen
Daher kann es passieren, dass der Patient Medikamente einnimmt, die nicht zueinander passen. Schluckt er beispielsweise das Antidepressivum Amitriptylin und bekommt von seinem Urologen zusätzlich das Präparat Oxybutynin gegen Blasenschwäche verschrieben, kann diese Kombination mitunter Sehstörungen, Verwirrtheit oder schwere Magen-Darm- Störungen hervorrufen. Mögliche Folgen: gefährliche Stürze oder auch ein Darmverschluss. Etwa fünf Prozent aller Krankenhauseinweisungen seien durch Neben- und Wechselwirkungen bedingt. "Die sind unnötig und könnte man sich sparen", sagt Schieber.
Ein großes Problem sieht der Pharmazeut zudem in der Selbstmedikation – sofern diese nicht in Absprache mit dem Arzt oder Apotheker erfolgt. "Auch vermeintlich sanfte pflanzliche Arzneimittel können Wechselwirkungen verursachen", warnt Schieber. Sogar äußerlich aufzutragende Schmerzsalben seien durchaus in der Lage, den Wirkstoff in den Körper zu bringen und etwa eine Blutdruckerhöhung hervorzurufen.
Nahrungsergänzungsmittel, Vitamin- und Mineralstoffpräparate bergen ebenfalls gewisse Risiken. "Präparate mit Kalzium oder Magnesium können sinnvoll sein, aber manchmal bereiten sie auch Probleme mit anderen Arzneimitteln", so Schieber. Ein Kalziumpräparat zum Beispiel könne die Wirkung mancher Antibiotika oder Osteoporose-Medikamente aufheben, wenn man sie ohne ausreichenden zeitlichen Abstand einnimmt.
Sicher mit der Stammapotheke
Um das Problem einer unübersichtlichen Multimedikation zu lösen, setzen viele Apotheken seit Jahren auf das Konzept der Kundenkarten. Dabei speichern sie alle verordneten und vom Patienten selbst gekauften Präparate in dessen Kundenkonto. Eigentlich eine gute Sache, findet Robert Schieber – vorausgesetzt, der Patient holt die Medikamente immer in derselben Apotheke. "Uns ist schon klar, dass nicht jeder alle Arzneimittel in seiner Stammapotheke holt, weil immer mal was dazwischenkommt." In der Regel bieten Apotheken auch Medikationsanalysen an. Dazu muss der Patient lediglich alle seine Arzneien mitbringen – der Apotheker kann dann gezielt beraten.
Einen Schritt weiter geht der bundeseinheitliche Medikationsplan, der jedem gesetzlich Versicherten zusteht, der drei Arzneimittel oder mehr auf ärztliche Verordnung einnehmen muss. Der Plan wird vom Arzt erstellt und enthält nicht nur eine Liste sämtlicher Medikamente, sondern auch die Einnahmehinweise. Ein wichtiger Punkt, findet Apotheker Schieber, denn viele Patienten mit Polymedikation nutzen zwar die richtigen Präparate – mitunter aber zum falschen Zeitpunkt: "Wer seine Schilddrüsenhormone erst nach dem Frühstück einnimmt, riskiert, dass sie nicht wirken."
Damit der Medikationsplan funktioniert, ist der Patient gefordert. Er sollte das Dokument bei jedem Arzt- und Apothekenbesuch mitführen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung appelliert an die Patienten, wirklich alle Medikamente anzugeben, die sie einnehmen, wie deren Sprecher Roland Stahl betont. "Ansonsten nützt auch der schönste Plan nichts, da er unvollständig ist und somit mögliche Wechselwirkungen nicht im vollen Umfang beurteilt werden können."
Elektronisch statt auf Papier?
Friedemann Schmidt, Präsident des Bundesverbands Deutscher Apothekerverbände, hält die Idee des Medikationsplans grundsätzlich für gut – doch es kämen noch zu wenige davon in der Apotheke an. Das Problem: "Es gibt den Plan bislang nur auf Papier." Zudem könne die Apotheke ihn lediglich auf Bitte des Patienten ergänzen. Schmidt fordert die Einführung einer elektronischen Version – unter Federführung der Apotheke.
Auch Robert Schieber empfiehlt Patienten, Fragen oder Bedenken offen anzusprechen. "Die Apotheke hat dafür sowohl die Zeit als auch das Know-how."
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