Nachdem Großbritannien im Juli den Freedom Day ausgerufen hatte, sanken die Corona-Zahlen zunächst. Rund drei Monate später zeigt sich ein anderes Bild: Nicht nur infizieren sich wieder deutlich mehr Briten, es liegen auch wieder mehr in den Kliniken. Und das trotz hoher Impfquote. Was wir daraus lernen können.
Mit vollen Clubs und ohne Masken feierte Großbritannien am 19. Juli den Freedom Day. Den Tag, an dem sämtliche Corona-Maßnahmen gefallen sind. Seitdem setzt das Vereinigte Königreich auf Eigenverantwortung anstatt auf Vorschriften.
Gut drei Monate später stellen die Zahlen die Rücknahme aller Maßnahmen wieder in Frage: Die Fallzahlen in Großbritannien, welche zwar nach dem Freedom Day leicht sanken, haben schon fast wieder Rekord-Niveau. Die täglichen Todesfälle stagnieren auf hohem Niveau. Und auch die Zahl der Hospitalisierungen ist insbesondere in einer Altersgruppe alarmierend hoch. Kam der Freedom Day doch zu früh? Die Zahlen aus dem Vereinigten Königreich im Überblick.
1. Die Fallzahlen
Am 15. Juli 2021, nur vier Tage vor dem Freedom Day, meldete Großbritannien einen Rekordwert von rund 60.000 bei den täglichen Neuinfektionen – der Höhepunkt der Sommerwelle. Zu diesem Zeitpunkt infizierten sich im 7-Tage-Schnitt täglich 47.510 Menschen.
Seitdem sanken die Fallzahlen wieder etwas, kletterten aber immer wieder auf über 40.000 – und könnten nun erneut das Sommer-Niveau erreichen. Denn Großbritannien meldete allein am 11. Oktober 49.383 neue Corona-Fälle – und dabei handelt es sich noch um einen vorläufigen Wert, wie die Gesundheitsbehörden erklären. Es können also Nachmeldungen folgen.
Auch in den vergangenen Tagen lagen die täglichen Fallzahlen immer wieder bei mehr als 45.000. Der nach den Nachmeldungen neu ermittelte aktuelle 7-Tage-Schnitt dürfte also nur knapp unter dem vom Sommer liegen.
Zu den Infizierten zählen auch viele Kinder. „In den letzten drei Wochen haben wir in England durchschnittlich 10.000 neue 5-14-Jährige jeden Tag positiv auf Covid getestet“, schreibt die deutsch-britische Mathematikerin Christina Pagel auf Twitter.
2. Die Hospitalisierungen
Nun bedeuten hohe Fallzahlen nicht unbedingt, dass auch viele Menschen schwer oder überhaupt an Covid erkranken. Immerhin sollten durch die Impfungen mindestens 79 Prozent der Personen über zwölf Jahren in Großbritannien vor einem schweren Verlauf geschützt sein. Doch auch der Blick auf die Hospitalisierungsrate zeigt: Die Pandemie ist noch nicht vorbei.
So befinden sich nach aktuellen Daten 7086 Covid-Patienten in britischen Krankenhäusern. Und damit mehr als 3000 mehr als zum Sommerhöhepunkt der Infektionszahlen am 15. Juli – damals waren es 4036. Die Hospitalisierungen haben sich seit Ende August auf einem Niveau von 6000 bis 8000 eingependelt. Und auch hier gilt: Das Risiko für einen schweren Verlauf nimmt mit steigenden Fallzahlen im Winter zu – auch die Zahl der Hospitalisierungen könnte also noch ansteigen.
Besonders alarmierend seien die Zahlen laut Experten, weil es sich aktuell keinesfalls nur um ältere Menschen handelt, bei denen das Risiko eines schweren Verlaufs sehr hoch ist. Vielmehr sind im Augenblick auch viele Jüngere, auch Kinder, im Krankenhaus und auf den Intensivstationen. „Wir sehen in diesem Sommer anhaltend hohe Krankenhauseinweisungen (für Kinder) und sie steigen“, schreibt Mathematikern Christina Pagel. Die große Anzahl der Infektionsfälle in den vergangenen Monaten werde „zu tausenden weiteren Long Covid-Fällen bei Kindern führen“, prognostiziert sie.
3. Die Todesfälle
Auch der Trend bei den Todesfällen in Zusammenhang mit Covid-19 fällt negativ aus: Vergleichen wir auch hier den aktuellen Wert mit dem vom Sommerhöhepunkt vom 15 Juli, sehen wir: Obwohl im Augenblick pro Tag rund 10.000 Fälle weniger gemeldet werden als im Juli, sterben täglich mehr Menschen daran.
Die britischen Gesundheitsbehörden geben als aktuellen gesicherten Wert den vom 13. Oktober an. An dem Tag starben 112 Menschen mit Covid-19. Zu diesem Zeitpunkt lag die Zahl der Neuinfektionen bei 49.383. Am 15. Juli hingegen, an dem 60.761 Neuinfektionen gemeldet wurden, starben hingegen mit 52 Personen weniger als die Hälfte.
Allerdings spiegeln die aktuellen Todeszahlen laut RKI in der Regel das Niveau des Infektionsgeschehen von vor etwa zwei Wochen wider. Vergleichen wir also die Todeszahlen mit den Infektionszahlen zwei Wochen vorher:
- Zwei Wochen vor dem 11. Oktober (112 Todesfälle) meldete UK 40.910 Neuinfektionen.
- Zwei Wochen vor dem 15. Juli (52 Todesfälle) meldete UK 28.117 Neuinfektionen.
Während sich die Todeszahlen also mit einem Anstieg von 115,4 Prozent im Vergleich zum Sommer mehr als verdoppelt haben, vervielfachten sich die Infektionszahlen lediglich um 45,5 Prozent. Das heißt: Die Zahl der Todesfälle ist überproportional gestiegen.
Sind die Impfdurchbrüche schuld?
Eine mögliche Erklärung für die hohen Todeszahlen trotz hoher Impfquote könnten Impfdurchbrüche sein. Diese bezeichnen eine symptomatische Covid-Erkrankung bei Geimpften. Zwar kommen solche Durchbrüche gerechnet auf die Gesamtzahl der Geimpften selten vor. Insbesondere bei Risikopatienten, die bereits vor über sechs Monaten ihre Zweitimpfung erhalten haben, steigt aber die Gefahr, einen solchen zu erleiden. Denn der Schutz der Impfung lässt bei denjenigen, deren Immunsystem aufgrund ihres Alters oder Vorerkrankungen ohnehin geschwächt ist, schneller wieder nach.
In Deutschland gehen laut jüngstem Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts etwa ein Drittel der Covid-Todesfälle bei über 65-Jährigen auf Geimpfte zurück.
Welcher Anteil der Hospitalisierten und Toten auf Geimpfte in Großbritannien zurückgeht, geben die Gesundheitsbehörden nicht an. Der Verdacht auf einen gewissen Anteil an Durchbruchsinfektionen liegt allerdings nahe. Großbritannien startete Anfang des Jahres mit den Impfungen, nur wenige Tage nach Deutschland.
Kritische Phase beginnt im Herbst
Umso wichtiger ist es für Risikogruppen, sich ein drittes Mal gegen Corona impfen zu lassen, mahnen Experten. Die sogenannte Booster-Dosis steigert die Immunität Betroffener und kann dazu beitragen, schwere und tödliche Verläufe weiterhin mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verhindern.
Wer zur Risikogruppe ab 70 Jahren zählt, sollte sich also möglichst bald impfen lassen, wie die Stiko rät. Dass diese Drittimpfung auch für Jüngere durchaus Sinn macht, legt auch eine neue Studie aus Israel nahe. Die Wissenschaftler hatten hier die Daten von rund 4,6 Millionen Menschen untersucht. Diese unterteilten sie in zwei repräsentative Gruppen, je nachdem, ob sie mindestens fünf Monate nach der zweiten Dosis eine Booster-Impfung erhalten hatten oder nicht. Einflussfaktoren wie Alter und Geschlecht kontrollierten die Forscher und untersuchten daraufhin die Risiken einer Corona-Infektion, eines schweren oder eines tödlichen Verlaufs.
Das Ergebnis: „In allen Altersklassen ab 50 war in der Booster-Gruppe das Risiko für Infektion etwa um das Zwölffache gegenüber der Ohne-Booster-Gruppe reduziert“, wie Statistiker Christian Hesse unlängst FOCUS Online erklärte. „In der Altersklasse der Jüngeren von 16 bis 29 Jahren war es sogar um das 17,6-fache reduziert.“ Noch stärker reduziert waren Risiken für schwere und tödliche Verläufe.
- Mehr zur Studie: Israel-Daten zeigen, wie stark Drittimpfung Immunschutz auch von Jüngeren verbessert
„Die Datenanalyse zeigt die überraschend große Steigerung der Schutzwirkung, den die Biontech-Booster-Impfung besitzt“, beurteilt Hesse die Ergebnisse. Sehr deutlich werde auch, dass dies nicht nur in höheren Altersklassen, sondern auch bei Jüngeren erheblich sei, um die Herdenimmunität aufrechtzuerhalten.
Kam der Freedom Day zu früh?
Die Zahlen aus UK deuten also alle darauf hin, dass die große Freiheit zu früh kam. Und sie zeigen, dass auch hierzulande noch nicht die Zeit für einen Freedom Day gekommen ist. „Im Augenblick ist die Debatte um einen Freedom Day verfrüht. Jetzt im Herbst ist der Zeitpunkt jedenfalls nicht sinnvoll“, sagte etwa Virologin Jana Schroeder aus Rheine im Gespräch mit FOCUS Online. Zudem bezeichnete sie das Vorhaben, alle Maßnahmen gleichzeitig abzubauen, als „gar nicht so sinnvoll“.
Gleicher Meinung ist der Bonner Virologe Hendrik Streeck. „Der Winter ist keine Zeit für Experimente“, sagte er im Interview beim Bambi. Im Augenblick befänden wir uns in einer Übergangsphase. In dieser könnten wir womöglich Maßnahmen zurücknehmen – aber müssten diese bei steigenden Zahlen auch sehr schnell wieder anziehen.
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