Ich habe mich an alle Corona-Regeln gehalten, doch allmählich werde ich zum Wutbürger

Anfang dieser Woche war es wieder soweit: Merkel tagte mit den Ministerpräsident*innen und drehte die Daumenschrauben der Nation weiter an. Der Lockdown wurde verschärft, in diesen Tagen werden die Regeln in den einzelnen Bundesländern verabschiedet. Aus epidemiologischer Sicht war das – um im Merkel-Sprech zu bleiben – alternativlos. Noch immer vermeldet das RKI täglich mehr als Tausend Tote. Die Pandemie muss unbedingt unter Kontrolle gebracht werden.

Doch mit diesem Regelkatalog, der verabschiedet wurde, hat sich die Politik keinen Gefallen getan. Er ist einerseits drakonisch streng und andererseits erschreckend lax. Vor allem aber wirkt er inkonsequent. "Ein großer Teil der deutschen Regierungspolitik unterschätzt die Vollheit der Schnauze der Leute, die weder Corona verharmlosen noch gegen wirksame Schutzmaßnahmen sind", schrieb Sascha Lobo in seiner jüngsten "Spiegel"-Kolumne.

Lobo sprach mir aus der Seele.

Ich verstehe die Corona-Regeln nicht mehr

Ich halte mich seit März an alle Regeln, die diese Pandemie mit sich bringt. Ich habe die Corona-App installiert und trage bei jeder Gelegenheit eine Maske. Ich treffe mich wenn möglich nur im Freien und fliege weder zum Sonnen auf die Kanaren noch zum Skifahren in die Alpen. Ich habe meinen besten Kumpel seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen und Weihnachten ohne Eltern und Geschwister, ohne Freunde und Bekannte verbracht. Derzeit wird bei uns das Treppenhaus gemalert und ich freue mich, endlich mal ein neues Gesicht zu sehen.

"Es kommt auf jeden und jede Einzelne an", sagte Merkel im Frühjahr. Ich habe deshalb mein Leben eingeschränkt, um meinen Teil zur Eindämmung der Pandemie beizutragen. Doch ich ertappe mich zuletzt immer häufiger, dass ich mich über die Regeln hinwegsetzen möchte. Nicht aus Böswilligkeit, sondern weil ich sie nicht mehr nachvollziehen kann.

Beispiel Kontaktverbot: Meine Mutter darf meine Familie problemlos besuchen. Ein Haushalt plus 1, so lautet die neue Regel. Würde ich mit Frau und zwei Kindern jedoch in die Wohnung meiner Mutter fahren, wäre dies verboten. Obwohl am Ende die gleichen Personen im Wohnzimmer sitzen. Was für ein Blödsinn.

Sandkiste nein, Büros ja

Dabei verstehe ich die Intention dahinter. Doch die Maßnahme wirkt überzogen, weil erst vor wenigen Wochen – trotz des Vetos zahlreicher Expert*innen und des gesunden Menschenverstandes – sich Millionen Familien an der Weihnachtstafel versammeln durften. Es wurden sogar hunderte Fremde gemeinsam in Gottesdienste gelassen. Ist das zu erklären? Wohl kaum.

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Privat dürfen sich seit Neuestem keine zwei Paare mehr treffen, selbst wenn sich alle vier Personen wochenlang wegsperren und einen negativen Corona-Test vorweisen können. Aber jeden Tag quetschen sich Zigtausende in volle S-Bahnen und Busse und anschließend in Großraumbüros, nur weil ihre Vorgesetzten auf ihre gesellschaftliche Verantwortung pfeifen. Die Politik will daran nichts ändern. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft Merkel die Arbeitgeber in diesem Land "dringend bittet", Home Office zu ermöglichen. In meinen Augen ist das eine Bankrotterklärung an politischem Gestaltungswillen.

Selbst Kinder unter 14 bleiben seit dieser Woche nicht mehr verschont. In unserem Haus sind alle Eltern vernünftig und betreuen ihre Kleinen zuhause. Diese dürfen trotzdem nicht in der Sandkiste miteinander spielen. Sollte eine Polizeistreife vorbeikommen, wären saftige Bußgelder fällig. Wenige Hundert Meter weiter toben jedoch Dutzende Kinder vergnügt miteinander in der Kita. Immer mehr Eltern geben ihre Kinder wieder ab, aus Bequemlichkeit oder Überforderung – und ich habe dafür volles Verständnis.

Der Alltag ist zu durchreglementiert

Ich habe den Eindruck, die Entscheider*innen konzentrieren sich so sehr auf das Klein-Klein und die Details, dass sie das große Ganze und die Probleme der normalen Bürger längst aus dem Blick verloren haben. In meiner Postbank dürfen maximal fünf Kund*innen in den riesigen Hauptraum. Ist der Andrang größer, müssen sich die übrigen Besucher*innen in einen etwa sechs Quadratmeter großen Vorraum quetschen, der nur als Durchgangsraum betrachtet wird. Das ist nicht sinnvoll, entspricht aber offenbar den Regeln, versicherte mir der Wachmann vor Ort.

Ein anderes Beispiel: Wer bei der Deutschen Bahn eine Fahrt als Familie buchen will, erlebt den programmierten Corona-Irrsinn in der Buchungsmaske. Abteile können nur noch von maximal zwei Personen besetzt werden, mehr Personen sind nicht gestattet – selbst wenn diese aus einem Haushalt stammen. Die Deutsche Bahn bucht einen dann lieber mit Kleinkindern, die keine Masken tragen können, in den Großraum, wo mir Fremde in den Nacken atmen können. Wie das der Eindämmung der Pandemie dienlich sein soll, kann einem niemand beantworten, nicht einmal die freundliche Service-Mitarbeiterin in der Hotline. "Ich verstehe Ihren Frust, aber so sind nun einmal die Regeln", sagt sie mit einem Seufzen.

Ich könnte noch viele weitere Alltagssituationen aufzeigen, an denen deutlich wird, dass die derzeitigen Corona-Regeln über das Ziel hinausschießen. Stattdessen möchte ich noch einmal klarstellen, dass ich einen harten Kurs für richtig und notwendig halte. Aber nicht so. Ich will nachvollziehbare Regeln, in der vollen Breite, und keinen unüberblickbaren Flickenteppich. Lieber drei Wochen ALLES zu, als bei jedem Lockdown noch eine Schippe draufzupacken, auf den Rücken der überlasteten Eltern und verzweifelten Solo-Selbstständigen, ohne eine Perspektive auf Besserung oder wenigstens Hilfe.

Der Winter wird lang, die Impfungen dürften sich hinziehen. Das Letzte, was die Politik braucht, wäre ein Aufstand der Vernünftigen.

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