“Willst du vielleicht auf meinen Schoß?”, gifte ich den Typen an, der in der Schlange an der Supermarktkasse bereits seine Artikel aufs Band legt, während die ältere Dame vor mir noch dabei ist, ihren Einkauf zu bezahlen. Dem Kerl in meinem Nacken, dem sein Stoffschutz bereits unter die Nase gerutscht ist, bedeuten die Anderthalb-Meter-Markierungen auf dem Boden nichts.
Und nicht nur ihm: Bei uns im Viertel sind die Terrassen schon wieder voll, außerdem wird munter gecornert, und im Supermarkt gehen die Leute auf Tuchfühlung wie der Typ hinter mir an der Kasse. Corona? Klingt hier nur noch wie dieser krasse Isolierungstrend aus dem Frühjahr, der jetzt halt nicht mehr angesagt ist. Corona? Ist endlich wieder bloß der Name auf der Bierflasche in der Hand des Hipsters an der Ecke.
Nicht die schlimmste Krise – “aber eine der traurigsten”
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Mir geht an dieser sogenannten Coronakrise wirklich alles wahlweise auf die Nerven oder an die Nieren – dass man sich wie ein Imker anziehen muss, um einkaufen zu gehen; dass viele meiner Freunde in Gastro und Kultur gerade ums wirtschaftliche Überleben kämpfen; dass die Menschen in der Not eben nicht zusammenkommen dürfen, weshalb der Schriftsteller Daniel Kehlmann recht hat, wenn er sagt, dass es sich vielleicht nicht um die schlimmste Krise der Menschheit handelt, “aber eine der traurigsten”.
Außerdem kann ich nicht gut mit Autoritäten umgehen, die nicht mit sich diskutieren lassen. Die mir etwas vorschreiben, an das ich mich zu halten habe, obwohl ich spüre, dass sie selbst nicht so recht den Durchblick haben (den sie, zugegeben, im Fall von Corona auch gar nicht haben können). Trotzdem erschien mir als Laie das Herunterfahren des öffentlichen Lebens als ebenso sinnvoll wie später die langsamen Lockerungen und die trotzdem weiter geltenden Abstandsregeln, an die ich mich gerne weiter halten will.
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Nur fällt Social Distancing täglich schwerer, wenn die entsprechenden Auflagen so unterschiedlich interpretiert werden – davon zeugt längst nicht nur die Anekdote aus dem Supermarkt. Ich gebe zu, dass auch ich die aktuellen Regeln nicht in aller Vollständigkeit aufsagen könnte, wenn mich der Lehrer an die Tafel bitten würde. Ich weiß nicht, ob sich in meiner Stadt gerade zwei oder drei Haushalte treffen dürfen, ob nun “Versammlungen” von fünf oder doch gar zehn Personen erlaubt sind, wie groß der Sicherheitsabstand auf der Terrasse im Restaurant auf den Millimeter genau sein muss.
Aber ich weiß genau, dass wir alle ein Problem haben, wenn ich durch meine Nachbarschaft laufe und mir mitleidige Blicke für meinen Mundschutz einfange; wenn sich im Dönerladen die Gäste auf engstem Raum rund um die Theke tummeln, während im Einrichtungsladen mit seinen gefühlt 800 Quadratmetern Verkaufsfläche nur fünf Kunden gleichzeitig aufhalten dürfen. Weil jeder wieder macht, was er will, verlieren alle den Überblick. Dieses Verhalten ist nicht nur verwirrend für einzelne, sondern auch unklug für die Allgemeinheit: Sobald nur eine/r aus der Reihe schert, könnte die Einhaltung der Maßnahmen durch alle anderen ihren Sinn verlieren. Das gilt erst recht in Zeiten der Lockerungen.
Die Homeschooling-Eltern, die Solo-Selbstständigen ohne Aufträge, die Inhaber kleiner Betriebe, die Angestellten in Kurzarbeit: Es muss im Interesse jedes einzelnen Bürgers sein, diesen gruseligen Ausnahmezustand so kurz wie möglich zu halten, und das kann offenbar nur funktionieren, wenn wir alle uns jetzt noch ein bisschen länger beherrschen. Es hat uns in Deutschland bisher nicht schlimm getroffen, aber dafür verantwortlich waren Restriktionen, deren ökonomische und psychologische Langzeitfolgen schlimm genug sein werden – und wir müssen um jeden Preis verhindern, dass sie wieder in Kraft treten.
Social Distancing: Falsche Interpretation von Freiheit
Das bedeutet, dass wir aufhören müssen, wie vermeintliche Häftlinge an Gitterstäben zu rütteln und uns einer falschen Interpretation des Freiheitsbegriffes hinzugeben: Wer Freiheit negativ auffasst, schreibt Philipp Hübl im “Philosophie Magazin”, definiert sie als “Freiheit von Zwang”, hier also eines zu großen Einflusses des Staates auf das Individuum und die Wirtschaft. Wer Freiheit dagegen positiv als “Autonomie” versteht, will, dass der Staat eingreift, um die freie Entfaltung besonders der Schwachen zu schützen. Letztere Auffassung wird laut Hübl verstärkt von Frauen vertreten, erstere repräsentiert demnach eindeutig eine maskuline Sichtweise. Allerdings wäre es schön, wenn im Rahmen dieser epochalen Problematik ausnahmsweise nicht die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sondern nur Geduld und der gesunde Menschenverstand eine Rolle spielen würden.
Muttertag
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“Was hast du denn für ein Problem?”, giftet der Typ an der Supermarktkasse zurück. Ich drehe mich um, aber bevor ich Sätze sagen kann, die zur Eskalation führen würden, meldet sich die Kassiererin zu Wort: “Keiner hat ein Problem”, sagt sie, “wenn du einfach zwei Schritte zurück gehst.” Der Typ macht eine abfällige Geste, dann tut er, wie ihm befohlen. Die ältere Dame vor mir schmunzelt in sich hinein: “Na siehst du”, sagt sie und lässt das Wechselgeld in ihr Portemonnaie prasseln, “hat doch gar nicht wehgetan.”
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