Daten als Kompass in der Pandemie: Wie Corona 2020 zum Jahr der Zahlen machte

Mit Corona standen sie im Jahr 2020 so stark im Fokus wie selten: Zahlen, Kennwerte, Verläufe. Einer der ersten Begriffe dabei: die Herdenimmunität. Schon im Februar sprach der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité darüber, dass sich wahrscheinlich 60 bis 70 Prozent der Menschen infizieren müssten, bis die Corona-Welle von allein abebben würde. Über Dunkelziffern wurde und wird diskutiert, über R-Werte und Sieben-Tage-Inzidenzen. Der Blick auf Zahlen ist vielen zur täglichen Routine geworden, auch der stern informiert tagtäglich über die Entwicklungen.

Infizierte in China


Beide arbeiteten in Krankenhäusern in Wuhan. Beide wurden krank. Nur eine überlebte

Auch Menschen, die sonst um Mathematik und Zahlen einen großen Bogen machen, setzen sich nun intensiv mit solchen Angaben auseinander, klicken sich durch immer neue Tabellen und Grafiken. Fachleute sehen darin ein gutes Zeichen: "Eine Gewinnerin der Corona-Krise ist die Wissenschaft der Statistik", sagt Mathematik-Professor Christian Hesse von der Universität Stuttgart. "Verlässliche Daten können Gold wert sein und Datenanalytiker sind moderne Goldgräber. Sie finden im Wirrwarr unübersichtlicher Datenberge die Nuggets belastbaren Wissens, das die Schlüssel-Ressource für sachgerechtes Handeln der Politiker ist." 

Corona als Mittel gegen Desinteresse und Zahlenblindheit?

Die Corona-Krise zeige, dass Zahlenkompetenz überlebenswichtig sei. "Folgte man im Blindflug ohne Datengrundlage den emotional aufgeladenen Mythen der Wissenschaftsskeptiker, würde die Menschheit in der aktuellen Krise vielleicht sogar in existenzielle Not geraten", so Hesse. Er geht von einem langfristig wachsenden Interesse an Daten und ihrer sachgerechten Interpretation aus.

Ähnlich sieht es der Psychologe Gerd Gigerenzer, der am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gearbeitet hat und inzwischen das Harding-Zentrum für Risikokompetenz leitet. "Corona gibt uns eine Chance, die Zahlenblindheit und das Desinteresse an Zahlen zu überwinden." Schulen könnten die Gelegenheit nutzen und nachhaltig etwas verändern. Anhand konkreter Corona-Beispiele könnten etwa Unterschiede von relativen und absoluten Werten erklärt werden, so Gigerenzer. 

Übersicht: Grafiken und Daten zur Corona-Pandemie

(Klick zum Auf- oder Zuklappen)

Die Daten in den Grafiken stammen vom Robert Koch-Institut (RKI), der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität (JHU) oder vom Projekt Risklayer (siehe jeweils Hinweis unter der Grafik). Die Zahlen können voneinander abweichen, da unterschiedliche Methoden zur Erfassung und Kommunikation der Daten genutzt werden. Das RKI veröffentlicht etwa in der Regel einmal am Tag neue Daten, die auf behördlichen Angaben basieren. JHU und Risklayer hingegen nutzen auch nicht-amtliche Quellen.
Die Daten der Auslastung der Intensivbetten stammen vom DIVI-Intensivregister.

Hinweis: Werden die Grafiken an dieser Stelle nicht oder fehlerhaft angezeigt, klicken Sie bitte hier. 

Der Kenntnisstand bisher ist aus Sicht des Experten bescheiden: "Viel Interesse heißt nicht immer, dass man es auch versteht", sagt er. "Wir haben in Deutschland das Problem, dass viele statistische Zahlen nicht verstehen." Das gelte auch für Ärzte, Manager und Politiker. "Das ist aber kein unüberwindbares Problem", meint Gigerenzer. "Wir haben auch allen Lesen und Schreiben beigebracht."

Zahlen müssen richtig eingeordnet werden

Wichtig sei es, Zahlen richtig einzuordnen, Hintergründe zu verstehen. So müssten etwa Neuinfektionen in Bezug zur Anzahl an Corona-Tests gesetzt und die Positivrate betrachtet werden. Grenzwerte wie 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen einer Woche seien wichtig, um Handlungen zu definieren. "Man muss aber verstehen, dass Grenzwerte immer willkürlich sind", so Gigerenzer. 

Einfach nur Zahlen herunter zu rattern greife zu kurz. "Es ist wichtig, dass man tiefer geht", sagt Gigerenzer. "Das ist aber aufwendig." Viele Menschen klammerten sich eher an eine Zahl, statt dass sie versuchten, die Zusammenhänge zu verstehen.

Zur Zahlenkompetenz gehöre auch, die Qualität der Daten einschätzen zu können – einschließlich der Unsicherheiten, mit denen Daten behaftet sind, sagt Hesse. "Dazu gehören Dunkelziffern, Verzerrungen und Streubereiche." Er geht davon aus, dass manches nach Corona bleiben wird. "Etwa die Einsicht, dass Wissenschaft und Datenkompetenz Game-Changer sind. Sie sind die besten derzeit bekannten Werkzeuge für unser Überleben und Wohlergehen", so Hesse. "Es gibt Studien, die eindeutig belegen, dass Menschen mit Zahlenkompetenz nur selten Corona-Leugner, Maskenverweigerer, Impfgegner oder Verschwörungstheoretiker sind." 

Und im neuen Jahr? Wenn erste Impfstoffe breit verfügbar auf dem Markt sind, werden neue Werte ins Zentrum rücken: Impfquoten und Logistik-Werte zum Beispiel – und wohl auch wieder die Herdenimmunität.

Quelle: Den ganzen Artikel lesen