Das unmögliche Urteil

Am 19. Oktober 2016 geschah, was wohl niemand für möglich gehalten hatte: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) erteilte der deutschen Arzneimittelpreisbindung eine Absage. DAZ-Herausgeber Benjamin Wessinger erinnert sich im Gespräch mit der Redaktion an den Tag, an dem dieses folgenschwere Urteil die Branche erschütterte.

DAZ: Herr Wessinger, heute vor fünf Jahren wurde das berühmte Urteil des EuGH bekannt, mit dem die Luxemburger Richter die Rx-Preisbindung für EU-Versender aushebelten. Wie haben Sie diesen Tag erlebt? 
Wessinger: Dieser Vormittag ist mir noch sehr gut in Erinnerung. Es gab ja keine Verkündung, sondern das Urteil wurde lediglich auf der Website des EuGH veröffentlicht. Angekündigt war, dass es dort gegen 10 Uhr erscheinen solle. Ich bin um 9 Uhr im Verlag angekommen und wurde zusehends nervöser. Ab Viertel vor 10 habe ich ständig die EuGH-Website aktualisiert. Den Moment, als das Urteil dort erschien – das war kurz nach 10 Uhr –, habe ich dann aber verpasst, weil ich so unruhig war, dass ich nur noch den Flur auf- und abgetigert bin. Erfahren habe ich es letztlich durch einen Anruf einer Kollegin aus der DAZ.online-Redaktion. 

Was ist in diesem Moment in Ihnen vorgegangen?
Es war ein bisschen wie beim Brexit und der Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten: Rein rational habe ich nicht ausgeschlossen, dass es passieren kann, aber emotional war es für mich unvorstellbar, dass die Richter so entscheiden würden. Auch die ABDA hat damals die Sicherheit ausgestrahlt, der EuGH werde schon nicht von seiner bisherigen Linie abweichen und das Subsidiaritätsprinzip infrage stellen. Innerhalb der Apothekerschaft und auch der Redaktion sind wir davon ausgegangen, dass der EuGH die Preisbindung bestätigen würde. Die einzigen, die an etwas anderes geglaubt haben, waren die Versender, und selbst bei ihnen wirkte das wie Zweckoptimismus. Das Urteil war schon eine große Überraschung.

Was ist schiefgelaufen? 
Vielleicht sind die Beteiligten etwas zu siegessicher in den Prozess gegangen. Ich war selbst bei der mündlichen Verhandlung in Luxemburg im Frühjahr 2016 nicht dabei, habe aber von mehreren Beobachtern gehört, dass der Bevollmächtigte der Bundesregierung nicht gut vorbereitet gewesen sein soll. Und auch aus der Urteilsbegründung geht hervor, dass gleich mehrfache Aspekte nicht ausreichend dargelegt wurden. Offenbar hat man sich zu sehr darauf verlassen, dass die Preisbindung in die nationale Gesetzgebungskompetenz fällt und man ihren Nutzen nicht weiter untermauern muss. Ich habe es als seltsam empfunden, dass man es bei so einem wichtigen Verfahren versäumt zu belegen, inwiefern wir hierzulande die Rx-Preisbindung brauchen, um eine flächendeckende Versorgung aufrechtzuerhalten. Es wäre die Aufgabe der ABDA gewesen, diesbezüglich Fakten zu schaffen. Kurze Zeit später haben die Juristen May/Bauer/Dettling genau das in einem Gutachten aufgezeigt. Das war innerhalb von wenigen Monaten möglich. 

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