Milch-Alarm und Fleisch-Skandal: Warum sich die Lebensmittel-Rückrufe überschlagen

Seit dem Jahr 2012 hat sich die Zahl der Lebensmittelwarnungen in Deutschland mehr als verdoppelt. Vor allem bei Milch- und Fleischprodukten häufen sich die Fälle. FOCUS Online erklärt, woran das liegt und was sich in Zukunft ändern muss, um die Sicherheit unserer Lebensmittel zu gewährleisten.

Wurst, Fleisch, Milchprodukte: In den vergangenen Jahren sprachen Hersteller in Deutschland immer mehr Lebensmittelwarnungen aus. Während im Jahr 2012 noch 83 Rückrufe vermeldet wurden, stieg die Zahl im vergangenen Jahr auf 186 Fälle.

Bis vergangenen Freitag wurden im Jahr 2019 bereits 160 Warnungen veröffentlicht. Das ergab eine statistische Auswertung des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.

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Dass es in der Überwachung und Kontrolle unserer Lebensmittel große Schwachstellen gibt, da sind sich Verbraucherschützer und Politiker einig.

Immer mehr Lebensmittelrückrufe – woran liegt das?

Eine Schwachstelle liegt laut Daniela Krehl, Fachberaterin für Lebensmittel und Ernährung der Verbraucherzentrale Bayern, bereits in der Veröffentlichung und Verbreitung von Warnungen und Rückrufen. Das zeige auch die Auswertung des zuständigen Bundesamtes.

„Die Zahlen, auf die sich das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit beruft, stammen von der Internetseite Lebensmittelwarnung.de – einem bundesweiten Portal. Die Überwachung der Lebensmittel ist jedoch Ländersache. Bis eine Warnung auf der Website landet, kann es daher zu Verzögerungen kommen“, erklärt Krehl.

Sie vermutet, dass in der Vergangenheit Hersteller das Portal häufig nicht genutzt haben. Erst durch die vergangenen Lebensmittelskandale und den öffentlichen Druck würden vermehrt Meldungen über das Portal veröffentlicht.

Auch habe sich in den letzten Jahren die Sensibilität von Herstellern und Behörden verstärkt, dadurch ließen sich die steigenden Zahlen ebenfalls erklären. „Händler und Produzenten sind mittlerweile sehr, sehr vorsichtig geworden“, erklärt die Lebensmittelexpertin. Dennoch zeigten Fälle wie der Wilke-Skandal, dass diese Vorsicht noch lange nicht ausreicht.

Der Bundesverband der Verbraucherzentralen sieht an mehreren Stellen Handlungsbedarf. Die Experten für Lebensmittelsicherheit fordern unter anderem mehr Befugnisse für Kontrolleure sowie eine regelmäßige Veröffentlichung der Kontrollberichte.

Warum gab es im Fall Wilke nicht direkt einen Rückruf?

Warum der Rückruf im Fall Wilke erst nach mehreren Monaten veröffentlicht wurde, kann sich auch die Lebensmittelexpertin nicht erklären. Die Behörden sollen bereits Wochen zuvor von einem Listerien-Verdacht gewusst haben. Laut der Website des hessischen Verbraucherschutzministeriums hatten die Behörden des zuständigen Landkreises bereits Ende August „nicht unerhebliche hygienische Mängel (Allgemein, Arbeitshygiene, Bauhygiene)“ festgestellt.

Der aktuelle Wurstskandal lege erneut die Schwachstellen in der Lebensmittelüberwachung offen. Die Aufklärung dauere zu lang, die Informationen seien dürftig.  „Wenn eine Gesundheitsgefahr besteht, muss sofort ein Rückruf erfolgen“, sagt Daniela Krehl. „Die Verzögerung im Fall Wilke geht aus unserer Sicht überhaupt nicht.“

In anderen Fällen, bei denen es um hygienische Mängel oder ekelerregende Zustände in Fabriken geht, wägen die Behörden den Gesundheits- und Verbraucherschutz laut Krehl gegen den Schutz der Unternehmensinteressen ab.

Rückrufe sollten aber erfolgen, wenn besonders sensible Verbrauchergruppen wie Kinder oder ältere Menschen auch nur potenziell gefährdet sein könnten. Auch sollen Sie veröffentlicht werden, wenn es sich zwar nicht um gesundheitsschädliche, aber ekelerregende Produkte wie Gammelfleisch handelt.

„Wenn aber ein derartiges Gesundheitsrisiko wie im Fall Wilke besteht, gibt es nichts abzuwägen. Da muss sofort gehandelt werden: Die Produktion muss gestoppt, die Bevölkerung informiert und der Rückruf veröffentlicht werden“, erklärt die Lebensmittelexpertin.

Wie läuft eine Lebensmittelkontrolle ab?

Der Prozess der Lebensmittelkontrolle ist zeitintensiv. „Schon bei den Rohstoffen gibt es eine Gefahrenanalyse“, erklärt Daniela Krehl. „Diese zeigt sich dann über sämtliche Prozesse der Produktion. Das betrifft auch die Personalhygiene und die Kontrolle der Maschinen.“

Der Lebensmittelexpertin zufolge sind Hersteller dazu verpflichtet, das Risiko einer Kontamination mit Fremdkörpern zu minimieren. Dabei reichten die Methoden von einfachen Sieben, Filtern oder Magneten bis hin zu aufwändigen Geräten, die mithilfe von Röntgenstrahlen, Mikrowellen, Lasern oder Ultraschall Fremdkörper verschiedenster Art erkennen können.

„Um Belastungen mit Keimen auszuschließen, lassen viele Hersteller ihre Lebensmittel außerdem in Labors untersuchen“, erklärt Krehl. Durch Betriebs- und Produktionskontrollen untersuchte die amtliche Lebensmittelüberwachung zudem, ob die Hersteller in der Produktion alle lebensmittelrechtlichen Vorschriften erfüllt haben.

Sind bestimmte Lebensmittel, die noch nicht verkauft wurden, nicht einwandfrei, kann der Produzent diese wieder aus dem Handel nehmen. „Man spricht dann von einem stillen Rückruf“, erklärt Krehl, „davon bekommen die Verbraucher gar nichts mit.“ Der Hersteller informiere dann lediglich die Händler, die die Ware aus den Regalen nehmen und verhindern, dass sie in den Verkauf gelangen.

„Eine Pflicht zur Rücknahme besteht dann, wenn die Produkte gesundheitsschädlich oder nicht zum Verzehr geeignet, etwa verdorben sind“, erklärt die Lebensmittelexpertin.

„Ist ein Produkt jedoch bereits im Handel und wurde auch bereits verkauft, muss von Seiten der Hersteller oder Behörden umgehend ein Rückruf erfolgen. Dabei werden alle betroffenen Lebensmittel aus dem Handel genommen und außerdem Warnungen an die Verbraucher veröffentlicht“, erklärt Krehl.

Doch nicht nur der Hersteller selbst kontrolliert seine Ware. Laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gibt es in allen zuständigen Länderministerien Untersuchungsprogramme. Diese führen Lebensmittelüberwachungs- und Veterinärämter in den Städten und Landkreisen durch.

Dass dieses Prozedere viel zu lange dauert, zeigten die aktuellen Skandale einmal mehr. Eine Veränderung der Strukturen in der Lebensmittelüberwachung ist Verbraucherschützern zufolge demnach unumgänglich.

Unter dem Titel „Konsequenzen aus dem Wurstskandal ziehen“ veröffentlichten die Verbraucherzentralen und der Bundesverband drei Forderungen:

  • Lebensmittelüberwachung neu organisieren
  • Rückverfolgbarkeit in Produktion und Handel verbessern
  • Schnelle und umfassende Informationen gewährleisten

Die Verbraucherschützer stellen klar, dass die Verantwortung für die Überwachung künftig auf Länderebene liegen müsse. Im Krisenfall müsse der Bund die Koordinierung und Verantwortung übernehmen, eine kommunale Lebensmittelüberwachung wie sie derzeit besteht, sei nicht mehr zeitgemäß.

Außerdem sei es wichtig, dass Behörden Rückrufe in Zukunft selbst durchführen könnten.

Um die amtliche Überwachung zu erleichtern, sollten Betriebe über ein zentrales, digitales System jede Stufe ihrer Lieferketten abbilden. Auch sei es wichtig, dass Verbrauchern Rückrufe und Informationen schneller übermittelt würden.

Mehr Überwachungsdruck ist nicht möglich: Kontrolleure fordern mehr Personal

Der Bundesverband der Lebensmittelkontrolleure Deutschlands fordert zudem mehr Kontrolleure in den Behörden. Gegenüber der „Welt am Sonntag“ erklärte Vorsitzende Anja Tittes: „Mit dem vorhandenen Personal schaffen wir nur rund 45 Prozent der notwendigen Kontrollen.“

Demnach sei mehr Überwachungsdruck nicht möglich. Schätzungen zufolge würden 1500 bis 2500 weitere Prüfer benötigt, zuletzt seien die Kontrollzahlen jedes Jahr gesunken.

Sehen Sie im Video: Milch mit Bakterien verseucht! Aldi, Lidl, Edeka, Kaufland, Netto starten Rückruf

FOCUS Online/Wochit Sehen Sie im Video: Milch mit Bakterien verseucht! Aldi, Lidl, Edeka, Kaufland, Netto starten Rückruf  

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