Zu Beginn der Corona-Pandemie wurde Deutschland für die zügig ergriffenen Maßnahmen weltweit gelobt. Der Plan ging damals auf: Im internationalen Vergleich ist das Land glimpflich durch die erste Welle gekommen. Auch dadurch, dass die Bundesregierung kritische Vorgaben für die Krankenhäuser erlassen hatte.
Um das Gesundheitssystem angesichts steigender Infektionszahlen erneut zu schonen, haben sich Bund und Länder auf strikte Maßnahmen verständigt: geschlossene Gastronomie, Stopp für Kunst und Kultur und eingeschränkte Kontakte ab dem 2. November. Das Gesundheitswesen blieb dabei jedoch außen vor. Warum das ein großes Problem ist und wodurch sich die zweite Corona-Welle von der ersten unterscheidet, erklärt Dr. Michael Wünning, Chefarzt am Hamburger Marienkrankenhaus.
Bundeskanzlerin Merkel hat am Mittwoch einen zweiten Lockdown verkündet. Hessens Ministerpräsident Bouffier (CDU) sprach sich für einen nationalen Gesundheitsnotstand aus. Wie schätzen Sie die beschlossenen Maßnahmen ein?
Dieser Lockdown ist genau das richtige Instrument zum richtigen Zeitpunkt. Aber der Lockdown ist eben nur das Mittel zur Bekämpfung des nationalen Gesundheitsnotstands. Frau Merkel hat notwendige, längst überfällige Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung ergriffen. Aber keiner hat über die Situation in Krankenhäusern gesprochen – und die ist jetzt deutlich anders als noch im ersten Lockdown.
Wodurch unterscheidet sich die aktuelle Situation vom ersten Lockdown?
Im März und April hatten wir von heute auf morgen einen harten Lockdown für das öffentliche und private Leben – gleichzeitig gab es klare Ansagen für die Krankenhäuser: Erstens planbare und nicht notwendige OPs abzusagen, um dadurch Personal verschieben zu können. Zweitens eine möglichst hohe Bettenanzahl für Covid-19-Patienten bereitzustellen. Und drittens haben Krankenhäuser, die natürlich auch Wirtschaftsbetriebe sind, Kompensationszahlungen für freigehaltene Betten bekommen.
Hinzukommt, dass als Maßnahme im ersten Lockdown zusätzlich die sogenannte Personaluntergrenze aufgehoben wurde. Dadurch konnten wir so arbeiten, wie es der Personalschlüssel zugelassen hat. Aber diese Ansagen gab es bisher nicht.
Im europäischen Vergleich hat Deutschland hohe Intensivkapazitäten. Bundesweit gibt es etwas mehr als 30.000 Intensivbetten, von denen aktuell an die 21.000 belegt sind – 1470 mit Covid-Patienten. Werden diese Kapazitäten in der nächsten Welle ausreichen?
Wenn man von Intensivkapazitäten spricht, muss man unterscheiden zwischen dem aufgestellten Intensivbett – da haben wir eine relativ hohe Zahl – und dem Intensivpflegepersonal. Hier gibt es nach wie vor einen Mangel an ausgebildeten Fachkräften und die lassen sich auch nicht in innerhalb von fünf, sechs Monaten herbeizüchten. Zudem ist mittlerweile die Personaluntergrenze wieder eingesetzt, wodurch wir nicht genügend Personal für alle Intensivbetten haben.
Das heißt, die Krankenhäuser müssen weiter ihr Normalgeschäft machen und zusätzlich noch die zunehmende Welle abfangen. Die Politik treibt uns in einen Spagat, den kein Krankenhaus richtig halten kann, wenn die Pandemie weiter fortschreitet. Ich kann daher wirklich nicht verstehen, dass im Augenblick überlegt wird, welche finanziellen Leistungen Wirtschaftsbetriebe bekommen und keiner darüber redet, wie viele Kliniken unter den derzeitigen Rahmenbedingungen überleben sollen. Provokant gesagt, wir können doch in einem nationalen Gesundheitsnotstand nicht als erstes an die Pizzeria um die Ecke denken. Natürlich müssen wir an die Pizzeria denken, aber doch bitte nicht ausschließlich.
Was erwarten Sie von der Politik?
Ganz klar: Zurück zu den Vorgaben von März. Kompensationszahlungen für den Aufwand und die Betten, die wir freihalten, um die Corona-Patienten zu behandeln. Aufhebung der Personaluntergrenze in den pflegekritischen Bereichen für eine gewisse Zeit. Und wir müssen daran denken, dass die Krankenhäuser und das Personal in ihrer Rolle wertgeschätzt und gestärkt werden. Die Stimmung wird immer wieder dadurch getrübt, dass die versprochenen Bonuszahlungen für Pflegende in Krankenhäusern nie auf den Konten angekommen sind.
Angesichts der aktuellen Lage, mit was für einem Gefühl gehen Sie in den Winter?
Das wird nicht wie im März ein kurzer Sprint, das wird ein Marathon, den wir da vor uns haben. Ich rechne mit deutlich höheren Infektionszahlen, mit deutlich mehr Intensivpatienten und wir müssen uns auch leider auf einen Anstieg an Verstorbenen einrichten.
Die gute Nachricht: In herausfordernden Ausnahmesituationen steht man sehr eng zusammen. Das gilt für das gesamte Marienkrankenhaus und insbesondere für mein Team. Ich bin generell sehr stolz auf meine Mädels und Jungs, aber in dieser Lage bin ich noch stolzer. Und deswegen ist die Stimmung auch 'Wir schaffen das', wir nehmen diese Herausforderung an.
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