Selbstversuche von Medizinern



Den einen brachten sie den Nobelpreis, den anderen den Tod. Selbstversuche haben in der Medizin Tradition

Held oder Hitzkopf? Zahlreiche Mediziner experimentierten an sich selbst – und retteten mit ihren Entdeckungen mitunter viele Menschenleben

Werner Forßmann hatte den Augenblick geschickt gewählt. Seine Kollegen machten an ­­­jenem Frühlingstag des Jahres 1929 gerade Mittagspause, als sich der 25-jährige Assistenzarzt in den OP-Saal des Auguste-Viktoria-Heims in Eberswalde schlich. Doch er war nicht allein. OP- Schwester Gerda Ditzen erkannte sofort, was der junge Hitzkopf vorhatte. Schließlich war er mit seinen Plänen, sich selbst einen Gummischlauch vom Arm aus ins Herz zu schieben, bereits beim Klinik-Chef abgeblitzt.

Gummischlauch im Herzen

Wohl ahnend, dass sie ihn nicht auf­halten würde, bot die Schwester sich selbst als Versuchsobjekt an. Werner Forßmann akzeptierte – zum Schein. Er schnallte die Frau auf einem OP-Tisch fest, nur um sich ungestört die Vene aufzuschneiden und den millimeterdünnen Schlauch in den Körper zu schieben, Zentimeter für Zentimeter Richtung Herzen. Als der Versuch fast geglückt war, schnallte er Ditzen los. Gemeinsam liefen sie die Treppe nach unten, wo das Röntgengerät einen Meilenstein der Medizin festhielt: den ersten Katheter im Herzen.

Das Ereignis, das der spätere Nobelpreisträger Werner Forßmann in seinen Memoiren schildert, ist wohl einer der berühmtesten Selbstversuche der Geschichte. Doch ist er nur einer von zahllosen. Um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, setzten Mediziner reihenweise ihr Leben aufs Spiel. Nicht wenige verloren es dabei oder ruinierten zumindest ihre Gesundheit.

Forschung auf eigene Kosten

So hätte seine Entdeckung Friedrich Sertürner beinahe das Leben gekostet. Im Jahr 1804 isolierte der Apotheker­gehilfe erstmals Morphin aus dem als Opium bekannten Saft des Schlaf­mohns – und testete es gemeinsam mit Freunden. Nur ein Brechmittel rettete sie vor einer tödlichen Vergiftung.

Als der amerikanische Immunologe ­Jonas Salk 1953 den ersten Impfstoff ­gegen die Kinderlähmung entwickelt hatte, testete er ihn zunächst an seinen Kindern, seiner Frau – und sich selbst. Alles ging gut.

Auch Nicolas Minovici hatte Glück, dass er überlebte. Der ­rumänische Gerichtsmediziner ließ sich Anfang des 19. Jahrhunderts ein Dutzend Mal am Galgen aufhängen. Das Ergebnis nach zahlreichen Nahtod-Erlebnissen: Blutergüsse, Schmerzen, Frakturen an Kehlkopf und Zungenbein – und die Erkenntnis, dass der Tod beim Erhängen eher durch die unterbrochene Blutzufuhr zum Gehirn eintritt als durch Ersticken.

"Es gibt das Bild des verrückten Wissenschaftlers – aber auch das des sich selbstlos aufopfernden Forschers", sagt der Medizinhistoriker Professor Volker Hess. "Der medizinische Selbstversuch spielt sich an der Grenze zwischen beidem ab."

Selbstversuchs-Virus ging um

Die Forschertradition reicht dabei weit in die Geschichte der Medizin zurück. In der Zeit der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts nehmen die Berichte allerdings zu – bis im 19. Jahrhundert in der Wissenschaftswelt geradezu ein Selbstversuchs-Virus um sich greift. "Das Labor rückt in den Mittelpunkt der Medizin", erklärt Hess, der an der Berliner Charité das Institut für Geschichte der Medizin und Medizinethik leitet. Das Experiment gilt nun als Königsweg zu neuen wissenschaft­lichen Erkenntnissen. Und das am leich­testen verfügbare Versuchskaninchen ist eben der Forscher selbst.

Doch nicht nur das: "Man war überzeugt, dass seine geschulte Beobachtungsgabe Vorteile bringt", erklärt Professor Holger Maehle, der sich als ­Medizinhistoriker an der Universität Durham (England) ebenfalls mit der Geschichte der Selbstversuche befasst hat. An sich selbst zu experimentieren wurde nicht nur als wissenschaftlich seriös angesehen, sondern als ethisch vorbildhaft. Maehle: "Manche Forscher stilisierten ihre Selbstversuche als eine Art Akt der moralischen Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft."

Größenwahn oder heroische Tat?

Während man heute schnell bei der Hand ist, Geltungssucht, Größenwahn oder zumindest unfassbaren Leichtsinn als Beweggründe anzunehmen, haftete dem Selbstversuch aus Sicht der Zeit geradezu etwas Heroisches an.

"Im Dienste der Wissenschaft wie ein Soldat auf dem Feld der Ehre" gedachte ­etwa Max von Pettenkofer im Jahr 1892 zu sterben, falls sein Experiment scheitern würde. Dann trank der Münchner Hygieneforscher ein Gebräu aus Chole­rabakterien, die er sich von den Mitarbeitern seines wissenschaftlichen Rivalen Robert Koch hatte kommen lassen. Er wollte beweisen, dass nicht Keime die Hauptursache des gefähr­lichen Durchfalls waren, sondern die Beschaffenheit von Boden und Grundwasser.

Max von Pettenkofer kam mit einer Woche Grummeln in den Gedärmen davon, wohl weil er die Erkrankung bereits zuvor irgendwann durchgemacht hatte. Die Theorien seines Konkurrenten setzten sich dennoch durch.

"Viele Forscher waren absolut davon überzeugt, recht zu haben", sagt Historiker Hess – was zumindest Experimente im Stil von Forßmann und Pettenkofer erklärt. Vor allem auf dem Gebiet der ­Infektionskrankheiten scheint der Wissensdrang teils geradezu mit Todessehnsucht einherzugehen. Um die Leiden besser zu verstehen, ließen sich ­Mediziner von Malariamücken stechen, infizierten sich mit Eiter von Syphilis­patienten, impften sich Blut von Pest­kranken. Opfer forderte auch die Erforschung einer Seuche, die sogar den Bau des Panamakanals zum Erliegen brachte: das Gelbfieber.

Tod im Dienste der Forschung

Um die Übertragungswege des Übels zu erkunden, wurde im Jahr 1900 eine Kommission aus den USA entsandt. Unter Verdacht, den Erreger zu verbreiten, geriet bald ein nur wenige Milli­meter großes Tierchen. Die Kommis­sionsmitglieder beschlossen, ihre Theorie zu überprüfen – und ließen sich von Mücken stechen, die sich zuvor am Blut Erkrankter gelabt hatten.

Der erste Wagemutige, James Carroll, überlebte das Fieber knapp. Um den Verdacht zu erhärten, folgte ihm sein Kollege Jesse Lazear. Er starb qualvoll im Alter von nur 34 Jahren. Weitere Tests mit Freiwilligen wurden durchgeführt, bis die Fachwelt schließlich überzeugt war. Immerhin: Am Ende rettete die Erkenntnis Tausende Leben. Jetzt wusste man, welche Waffen gegen die Seuche wirkten: Sümpfe trockenlegen und Moskitos vernichten.

Im Lauf des 20. Jahrhunderts werden die Berichte über Selbstversuche spärlicher. Eine Ausnahme bildet der Bereich der Pharmakologie, wo diese noch länger zum guten Ton gehörten – vor allem bei Medikamenten, welche die Psyche beeinflussen. "Als den Beginn der Psychopharmakologie kann man die Kokain-Experimente Sigmund Freunds ansehen", sagt Maehle.

Entdeckung der Drogen

Der Vater der Psychoanalyse probierte die Wirkung gleich mehrfach an sich selbst aus. Viele folgten seinen Spuren. Noch in den 1970er-Jahren testete der Chemiker Alexander Shulgin Hunderte selbst entwickelte Substanzen – und entdeckte ­dabei unter anderem die spätere Party­droge Ecstasy.

Ob Drogen wie LSD ohne Selbstversuche unentdeckt geblieben ­wären? "Durchaus möglich", meint ­Experte Hess. Versuchstiere wie ­etwa Mäuse können ja schwerlich von den farbigen Bildern berichten, welche die Stoffe vielleicht in ihrem Gehirn wachrufen.

Selbstversuche heute noch modern?

Dass manche Forscher neue Substanzen auch heute noch selbst testen oder andere Ideen erst einmal an sich ausprobieren, hält Hess für durchaus wahrscheinlich. "Dieses Testen, Tüfteln, Ausloten macht die Forschung produktiv", so der Medizinhistoriker – und die Wissenschaft zum Abenteuer.

Aus den Publikationen jedenfalls ist der Selbstversuch verschwunden. Hauptgrund dürfte der veränderte Begriff von Wissenschaftlichkeit und ihrem Ideal der Objektivität sein. Das subjektiv empfindende, von der eigenen Erwartung beeinflusste Subjekt des Forschers hat als Versuchstier ausgedient.

Von wagemutigen und stolzen Forschern

Der Test, den der Australier Barry Marshall 1983 an sich durchführte, erscheint bereits wie ein historischer Nachzügler. Überzeugt davon, dass Magengeschwüre nicht durch Stress, sondern Bakterien hervorgerufen werden, leerte er einen Keimcocktail in einem Zug. Er brachte ihm eine entzündete Magenschleim­haut – und den Nobelpreis.

"Ansonsten verläppert sich die Geschichte des Selbstversuchs im Anekdotischen", sagt Hess. Wie etwa der Bericht über den Urologen Giles Brindley. 1983 ließ er auf einem Kongress in Las Vegas, so die Anekdote, vor versammelter Kollegenschaft die Hose runter, um die Wirkung eines Potenzmittels zu demonstrieren. Laut einem Bericht der Ärztlichen Praxis präsentierte er das Ergebnis "stolz wie ein Hahn".

Lebendig bleibt der Selbstversuch aber am Rande der seriösen Wissenschaft, wie etwa eine englischsprachige Online-Datenbank mit rund 60 000 Dokumenten beweist. Inhalt: Informationen zu psycho­aktiven Substanzen, gewonnen vor allem im Selbsttest. Hess: "Ich bin überzeugt, da schauen auch pharmakologische Forscher mal rein."

Erfolg der Biohacker bleibt aus

Eine Wiedergeburt erlebt das Experimentieren am eigenen Leib ­zudem unter jungen Forschern, die sich selbst als Biohacker bezeichnen. Durch Genmanipulation wollen sie das menschliche Erbgut ­verändern und so Krankheiten wie Krebs stoppen oder das Altern verlangsamen. Als Versuchskaninchen verwenden sie vor allem sich selbst.  Auf wissenschaftliche Lorbeeren hoffen Selbstexperimentatoren heute aber meist vergebens.

Kunststücke für den Zirkus

Dass zu viel Wagemut der Karriere schaden kann, erfuhr übrigens bereits der Vater des Herzkatheters Werner Forßmann. Zwar erhielt er bald eine Anstellung an der Ber­liner Charité. Als aber sein Chef, der ­große Mediziner Ferdinand Sauerbruch, Wind von dessen Eskapaden bekam, polterte er: "Mit solchen Kunststückchen habilitiert man sich in einem Zirkus!" – und warf Forßmann raus.

Zu einem der wichtigsten Untersuchungsinstrumente des Herzens machten seinen Katheter weniger tollkühne Forscher. Zusammen mit den Amerikanern André Frédéric Cournard und Dickinson Woodraff Richards erhielt Forßmann 1956 den Nobelpreis.   

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