Reden wir von Stress, dann meinen wir das in der Regel negativ. Wenn wir „gestresst“ sind, stellen wir uns meist die Frage, ob dies der Auslöser für Krankheitsgefühle ist. Jedoch gibt es auch positiven Stress, welcher Eustress genannt wird und die Aufmerksamkeit fördern und den Körper zu Höchstleistungen bringen kann.
Inhaltsverzeichnis
Eustress und Distress
In der Psychologie, Medizin und Evolutionsbiologie unterscheidet man zwischen Disstress und Eustress. „Eu“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „gut“. Er ist positiv und fördert den Körper und die Psyche. Disstress hingegen erschöpft die Resilienz, macht uns schwächer und ist negativ. Jedoch lassen sich die beiden Formen nicht strikt voneinander trennen, da sie auf dem gleichen Überlebensmechanismus basieren.
Kämpfen oder fliehen
Stress ist ein Erregungszustand, mit dem Lebewesen auf außergewöhnliche Situationen reagieren, welche eine erhöhte Aufmerksamkeit erfordern und besonderer Leistungen bedürfen. In einer solchen Situation nimmt das Gehirn an, dass unsere Existenz auf dem Spiel steht. Zu Zeiten der Jäger und Sammler mussten wir schnelle, geschickte und wehrhafte Tiere zur Strecke bringen, welche ohne höchste Achtsamkeit im Dickicht verschwunden wären. Gleichzeitig mussten wir uns auch mitunter vor Beutegreifern schützen, indem wir ihnen aus dem Weg gehen oder wir uns ihnen entgegengestellt haben. Diese „Hit or run“ Situation löst Stress in uns aus, da wir uns binnen Sekunden entscheiden müssen, ob wir kämpfen oder fliehen wollen. Vorfahren, die einen solchen Ausnahmezustand nicht aktivieren konnten, wurden von der Evolution selektiert, sodass Sie beispielsweise von Löwen verspeist oder von einer Bisonherde überrannt wurden.
Besonders Konflikte zwischen menschlichen Individuen und menschlichen Gruppen setzten die körpereigene Stresschemie in Gang. Auch hier ging (und geht) es um eine „Hit or run“-Entscheidung – salopp gesagt darum, blitzschnell zu entscheiden, wann der Punkt zwischen einer verbalen Pöbelei und einer körperlichen Auseinandersetzung überschritten wurde. Im selben Atemzug galt es auch zu entscheiden, ob man seinem Gegenüber gewachsen ist oder es besser wäre wegzulaufen. Ganz egal, ob eine Mutter ihr Kind vor Hyänen beschützen wollte oder ein Junge versuchte einzuschätzen, ob ein Schatten im Busch von einem Säbelzahntiger stammt oder nicht – in beiden Situationen lief der Stressmodus ab.
Jedoch setzt der Eustress auch dann ein, wenn ein 14-Jähriger nervös wird, während sein Schwarm den Schulbus betritt, eine Mutter ihr Neugeborenes zum ersten Mal erblickt, ein Paar seiner Hochzeitsnacht entgegenfiebert oder ein Autor den Briefkasten öffnet und das erste Exemplar seines Romans erwartet.
Was passiert bei Stress?
Stress ist der Modus mit dem das Gehirn auf Extremsituationen reagiert, damit der Körper schneller handeln kann als gewöhnlich. Innerhalb von Millisekunden setzt es dafür Neurotransmitter wie Acetylcholin frei. Das Blut fließt verstärkt in die Muskeln, eine höhere Ausschüttung der Hormone Kortisol und Adrenalin sorgen für mehr Energie. In der Folge wird die Verdauung gebremst, der Blutdruck steigt, das Herz schlägt schneller, Kurzatmigkeit setzt ein und die Pupillen weiten sich.
Positiver Stress geht vorüber
Der Eustress hält nicht lange an, wirkt aber langfristig. Wenn wir uns kurzfristig Extremsituationen aussetzen, die den Stressmodus aktivieren, schlafen wir besser, werden psychisch ausgeglichener und im Alter aktiver. Mit anderen Worten: Es tut uns gut, unserem Gehirn Gefahr zu suggerieren, diese „Gefahr“ aber auch zu überwinden, sodass sich die hochgefahrenen Hormone wieder auf ihren Normalstand einpendeln. Positiver Stress kommt folglich durch das Hochfahren von Energie und das anschließende Entladen zustande.
Weggerannt und Stress gebannt
Unsere Vorfahren, die mitten in der Natur lebten, hatten damit kein Problem – im Gegenteil, der Stresszustand zwang Sie dazu, körperlich zu agieren. Bei einer als bedrohlich empfundenen Situation, den Speer zu werfen, mit voller Kraft wegzulaufen oder sich vor einer Steinlawine wegzurollen, sorgte für das Überleben und im Anschluss war die Stresssituation direkt beendet. War die Antilope erlegt, der Leopard vertrieben oder das Baby in Sicherheit, fuhren die Hormone so schnell herunter, wie sie zuvor nach oben geschnellt waren. Unser Gehirn wartet also auf das Signal, dass die Gefahr gebannt sei – den Moment, in dem wir tief durchatmen können. Das typische „Puuh“, welches uns allen bekannt sein dürfte, signalisiert, dass der Stressmodus der Kurzatmigkeit beendet ist und sich unser Kreislauf wieder normalisiert.
Achterbahn und Horrorfilme
Auch ohne die biochemischen Prozesse zu kennen, setzen wir uns immer wieder von neuem solchen kurzfristigen Stressreaktionen aus: Die einen gucken einen Thriller, andere lesen einen Horrorroman, während dritte Achterbahn fahren und andere einen Marathon laufen.
Horrorliteratur basiert, laut Stephen King, auf einem sehr einfachen Muster: Es gibt ein Monster, welches die Menschen bedroht und schlussendlich umbringt. Die Spannung (der Stress) in der Story dreht sich um die Frage, ob das Monster oder die gejagten Menschen siegen. Wenn das Monster am Ende der Geschichte tot ist, atmen wir auf und fühlen uns gut. Kinder z.B. haben einen ruhigeren Schlaf, wenn die böse Hexe in der Gute-Nacht-Geschichte stirbt, sodass sich die zuvor angestiegenen Hormone wieder in den Normalmodus senken.
Würden wir den Zustand der gesteigerten Spannung (des Stresses) nicht als vorübergehend angenehm empfinden, würden wir ihn nicht aufsuchen. Die Grenzen unterscheiden sich je nach Individuum. Während einige Personen schon die Spannung eines Samstagabend-Krimis nicht aushalten, langweilen sich andere, wenn ein Psychothriller Beklemmungsgefühle nicht gekonnt inszeniert. Einige Menschen bekommen weiche Knie, wenn sie Fahrgeschäfte wie eine „Loopingbahn“ im Freizeitpark nur sehen, wohingegen andere immer auf der Suche nach dem nächsten Adrenalinkick sind, ob beim Snowboard-Salto, Bungeespringen oder Fallschirmspringen.
Sowohl bei Horrorfilmen als auch beim Marathonlauf handelt es sich um positiven Stress, da er kontrolliert verläuft. Die Bedrohung ist fiktiv und nicht real. Wenn es der Person zu viel wird, kann sie den Fernseher einfach ausstellen und der Marathonlauf kann jederzeit abgebrochen werden. Der negative Stress hingegen entzieht sich unserer Kontrolle, da wir nichts dagegen unternehmen können.
Distress ist Dauerstress
Die Stresssituationen in der natürlichen Umwelt waren meist kurzfristig, wobei das Mobbing durch Artgenossen eine Ausnahme darstellt, da es ähnliche Auswirkungen hat wie negativer Stress. Das Problem in Industrie- und postindustriellen Gesellschaften ist, dass die Stressfaktoren dauerhaft sind und nicht enden. Wir stehen unter Stress, weil wir zu viele Aufgaben innerhalb weniger Zeit erledigen müssen. Wir müssen Multitasking betreiben, statt einen Gedanken zu Ende zu denken, zeitgleich auf mehreren „Hochzeiten tanzen“, damit wir im Gespräch bleiben und Karrierechancen bekommen.
Im Gegensatz zu früher ist es nicht das Raubtier, welches wir fürchten und das uns in den Stressmodus versetzt. Es ist die Angst davor, den Job zu velieren, sodass wir unsere Miete nicht mehr bezahlen können. Solche Situationen stressen uns, unser Energieverbrauch steigt, ohne das wir ihn aufladen können. Wenn jetzt viele Menschen nach einfachen „Haudrauf-Lösungen“ suchen, lässt sich das mit unserem Stresshaushalt erklären. Manchmal entwickeln wir dabei auch Fantasien, die uns für einen Augenblick beruhigen.
Stress in der Fantasie
Unser „Hit or Run Modus“ im Gehirn ist uralt und der Stress entsteht in Schichten des Gehirns, welche wir mit Reptilien teilen. Zu den Fähigkeiten des Menschen gehört es indessen, sich Situationen vorzustellen und allein durch diese Vorstellung ähnliche Gefühle zu durchlaufen, wie in der Realität – im Positiven wie im Negativen. Wir können ein Trauma durchleiden, indem wir allein von traumatischen Geschehnissen hören, wir können unter Erinnerungen an Erlebnisse leiden, die niemals stattgefunden haben.
Wir sind in der Lage, uns durch Beobachtungen und Vorstellungen in einen Stressmodus zu versetzen, was sowohl positiv, als auch negativ sein kann. Fußballfans, die ein Spiel am Fernseher oder im Stadion verfolgen, sind ein gutes Beispiel. Sie durchleben das gesamte Spektrum des Stresses, ohne selbst auf dem Platz zu stehen. Hat ein Spieler eine Torchance, steigt der Stresspegel des Zuschauers. Er fällt jedoch umgehend ab, sobald der Spieler geschossen hat. Nach Beendigung des Spiels fällt der Pegel bei allen, sowohl bei den Spielern als auch bei den Zuschauern, ab – unabhängig davon, ob die „eigene Mannschaft“ gewonnen oder verloren hat.
Computerspiele, insbesondere Ego-Shooter, sind ein weiteres Beispiel für positiven Stress. Sie sind auf die „Hit and run“ oder „Hit and Hide“ Situation ausgerichtet. Mit einem Mausklick entscheidet der Spieler im Bruchteil einer Sekunde, ob er auf blitzartig erscheinende Gegner schießt (einschlägt etc.) oder die Flucht antritt. Lässt der Spieler sich zu lange Zeit für diese Entscheidungen, kann dies das Ende für den Charakter des Spielers bedeuten.
Das Flowing
Schamanen, Künstler, Schriftsteller und „Normalmenschen“ kennen den Zustand des Flowings – sie verschmelzen mit ihrer Tätigkeit, Zeit und Raum verlieren ihre Bedeutung und Handlungen, die zuvor kaum zu lösende Probleme dargestellt haben, fallen ihnen auf einmal leicht. Dieser Zustand heißt „Flowing“ (fließen), da Handlungen nahtlos ineinander überzugehen scheinen.
Aber was hat all das mit positivem Stress zu tun? Mehr als man denkt, denn Kreative erreichen diesen Zustand insbesondere dann, wenn sie sich einer Arbeit widmen, die ihre Fähigkeiten beziehungsweise das, was sie sich zutrauen, ein wenig übersteigt. Routine löst ebenso ein „Fließen“ aus wie eine Tätigkeit, welche die Betroffenen völlig überfordert. Somit handelt es sich um denselben Zustand des Stressmodus.
Wenn Stress die Empfindungen und Reaktionen eines Organismus auf Reize bedeutet, dass sie ihn in seinem gegenwärtigen Zustand überfordern und bedrohen, dann wäre der als Glücksgefühl beschriebene Zustand des Fließens der Zustand, in dem ein leichter Stressmodus erfolgreich bewältigt wird. (Dr. Utz Anhalt)
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