238.000 Kinder haben Depressionen oder Angststörungen

Innere Unruhe, nagende Selbstzweifel, kaum Energie: Fast zwei Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland haben laut einer Studie der Krankenkasse DAK eine diagnostizierte Depression. Für ihren aktuellen Kinder- und Jugendreport hat die Kasse dazu die Abrechnungsdaten von mehr als 800.000 Minderjährigen für die Jahre 2016 und 2017 ausgewertet.

Demnach diagnostizierten Ärzte bei rund zwei Prozent der Schüler eine zumeist mittelschwere depressive Episode und bei ebenso vielen eine Angststörung. Hochgerechnet auf alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland seien insgesamt etwa 238.000 Kinder im Alter von zehn bis 17 Jahren so stark betroffen, dass sie einen Arzt aufsuchen. Im Vergleich zum Vorjahr sei die Depressionshäufigkeit 2017 um fünf Prozent gestiegen.


Da Krankenkassen unterschiedliche Versichertenstrukturen haben, sind solche Hochrechnungen unter Experten umstritten. Bei der DAK sind nach Angaben der Kasse insgesamt rund sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen 0 und 17 Jahren in Deutschland versichert. Sie bezeichnet ihre Studie mit Blick auf die Alters- und Geschlechtsverteilung als “annähernd repräsentativ”. In Bezug auf die sozioökonomische Lage der Familien sind die Daten hingegen nicht repräsentativ.


Mädchen waren den Kassendaten zufolge deutlich häufiger wegen Depressionen beim Arzt als Jungen. Die Entwicklung bei den Geschlechtern geht demnach spätestens ab dem 14. Lebensjahr deutlich auseinander.

Fast jeder sechste junge Patient (17 Prozent) bekam 2017 ein Antidepressivum verordnet, zumeist von Fachärzten. Bis zu acht Prozent der betroffenen Kinder und Teenager kamen zur Behandlung einer Depression in eine Klinik, durchschnittlich mehr als einen Monat lang (39 Tage).

“Im Report sehen wir nur die Spitze des Eisbergs”, sagte Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. “Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.” Es gebe viele Kinder, die an Depressionen litten und erst spät in die Praxen kämen.

Beim Übergang von der Klinik in die ambulante Versorgung sieht die DAK große Lücken: Rund ein Viertel der jungen Patienten komme später erneut ins Krankenhaus. “Wir brauchen eine offene Diskussion über das Tabuthema Depressionen bei Kindern”, forderte DAK-Vorstandschef Andreas Storm. “Kinder leiden oft leise, bevor sie eine passende Diagnose bekommen. Wir müssen alle aufmerksamer werden – ob in der Familie, in der Schule oder im Sportverein.” Die Stigmatisierung durch einen langen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie sei für Betroffene eine zusätzliche Belastung. Die DAK fordere daher eine bessere Versorgung von Betroffenen insbesondere mit ambulanten Therapieangeboten.

Deutsche Depressionshilfe schätzt zwei betroffene Schulkinder pro Klasse

Dass Depressionen nicht nur für Erwachsene ein Thema sind, ist bekannt. Der Psychiater Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, schätzt die Zahlen der Kasse als realistisch ein. Eine Depression kann sowohl genetisch bedingt sein als auch zum Beispiel durch Traumatisierungen oder Missbrauchserfahrungen erworben werden. Fachleute sind sich Hegerl zufolge einig, dass die Neigung zu Depressionen in Deutschland nicht steigt. Vielmehr gebe es mehr Diagnosen, weil Ärzte das Leiden besser erkennen und mehr Menschen als früher bereit sind, sich Hilfe zu suchen.

Für Deutschland gibt es Studien, nach denen rund acht Prozent der Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren im Laufe eines Jahres an einer anhaltenden depressiven Störung erkranken. Das sind rund fünf Millionen Menschen.

Anzeichen für Depressionen bei Schülern

Zu den Anzeichen für eine Depression gehören oft Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, innere Leere, Appetitlosigkeit und Interessenverlust. Konzentrationsstörungen führen häufig zu weniger Leistungsfähigkeit. Bei schweren Episoden ziehen sich Betroffene stark zurück. Kinder und Teenager schaffen es dann kaum noch, in die Schule zu gehen. Dauer, Intensität und Symptome einer Depression können aber sehr unterschiedlich sein. Unbehandelt können schwere Episoden bis zu Suizidgedanken führen.

Bei Teenagern kann es für Laien schwer sein, Anzeichen für eine Depression vom normalem “Pubertieren” mit heftigen Stimmungsschwankungen zu unterscheiden. Für Fachleute sei es jedoch recht gut möglich, zum Beispiel Gefühle von innerer Versteinerung zu erkennen, so Hegerl.

Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe geht davon aus, dass im Vorschulalter ein Prozent der Kinder und im Grundschulalter rund zwei Prozent betroffen sind. Bei Jugendlichen stiegen die Raten dann an: Zwischen 12 und 17 Jahren seien es drei bis zehn Prozent Betroffene. Ulrich Hegerl zufolge geht mit einer unbehandelten depressiven Erkrankung bei jungen Menschen ein hohes Risiko einher, Schule oder Ausbildung nicht erfolgreich zu beenden.

Kinder depressiver Eltern stärker gefährdet

Die Zahlen der Kasse zeigen Zusammenhänge, die ähnlich bereits in anderen Studien belegt wurden: So steigt laut dem Report das Depressionsrisiko bei Kindern und Teenagern um ein Dreifaches, wenn bereits Elternteile psychisch oder anders chronisch erkrankt sind (Lesen Sie hier, welche Auswirkungen die Depressionen der Eltern auf Kinder haben können).

Auch eine eigene chronische Erkrankung, Adipositas, Diabetes, Asthma und Schmerzen können das Depressionsrisiko bei jungen Leuten laut Bericht erhöhen. Für Jungen geht die DAK davon aus, dass Depressionen unterdiagnostiziert sind: Wie erwachsene Männer bagatellisierten sie häufig seelische Probleme.

Die eigene Familie scheint Kinder umgekehrt auch bedingt vor Depressionen schützen zu können: Besonders ausgeprägt zeigte sich das in den Kassendaten von Akademikerfamilien. Vermutlich könnten sie ihren Kindern Bildung, ein gutes Netz und soziale Sicherheit bieten, heißt es.

Insgesamt zählten im Report Atemwegserkrankungen, Infektionen, Augen- und Hautprobleme zu den häufigsten Erkrankungen bei den 10- bis 17-Jährigen. Psychische Erkrankungen folgten mit 24 Prozent auf Platz fünf. Depressionen machten darunter nur einen kleinen Teil aus – am häufigsten diagnostizierten Ärzte Entwicklungs- und Verhaltensstörungen.

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