Der Statistiker Göran Kauermann ist seit Oktober 2019 Dekan an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. In einem aktuellen Interview erklärt er, warum man in Corona-Zeiten nicht leichtfertig von “Übersterblichkeit” sprechen kann – und wieso das Datenmanagement des RKI besser werden muss.
982.489 Sterbefälle hat das Statistische Bundesamt von Januar bis Dezember 2020 registriert – das sind rund 48.000 mehr als im Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019. Für viele gibt es für das Plus an Sterbefällen eine naheliegende Erklärung: Die Corona-Pandemie. Tatsächlich sind unter den Verstorbenen laut Robert-Koch-Institut 39.201 Menschen, die an oder mit Covid-19 gestorben sind.
Doch kann man von Übersterblichkeit sprechen?
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Zahl der Todesfälle hat sich erhöht, aber Statistiker sieht keine Übersterblichkeit
Nein – das sagt zumindest der Münchner Statistiker Göran Kauermann in einem aktuellen Interview mit der "Welt". Die Zahl der Toten habe sich zwar im Vergleich zu den Vorjahren zwar erhöht, "sollte aber nicht leichtfertig als Übersterblichkeit interpretiert werden", erklärt er. Das hat für Kauermann zwei Gründe. Zum einen verweist er auf die Alterstruktur der Toten. "Sie müssen wissen, dass der Jahrgang 1940, also der heute 80-Jährigen, besonders geburtenstark war", zitiert ihn die "Welt".
2020 seien daher fast 50.000 Tote mehr zu erwarten gewesen als im Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Analyse, die vor kurzem im "Spiegel" zu lesen war. "Von Jahr zu Jahr leben in Deutschland immer mehr Menschen jenseits der 65 Jahre. Denn die Jahrgänge, die ins Rentenalter eintreten, bestehen aus immer mehr Menschen", heißt es darin. Vor diesem Hintergrund sei es logisch, dass auch die Zahl der Sterbefälle steige. Rafael Yaghobzadeh/AP/dpa Särge – Coronavirus
"Hinzu kommt aber noch ein weiterer Effekt. 2020 war die Grippewelle praktisch ausgefallen, weil sich ab Mitte Februar die Hygienemaßnahmen durchgesetzt hatten", sagt Kauermann. Es gab also deutlich weniger Grippetote als in den Vorjahren, was sich auf die Gesamtstatistik auswirkt.
Sein Fazit: "Wenn man um den Alterseffekt bereinigt, ist das Jahr 2020 ein nicht nennenswert auffälliges Jahr." Dass die Zahl der Sterbefälle im Jahr 2020 nicht deutlich höher liegt, dürfte am Ende aber auch an den strikten Anti-Corona-Maßnahmen liegen, die hierzulande gelten. Ein britisches Forscherteam kam im Fachmagazin "Nature" zu dem Schluss, dass die Schutz-Regelungen in elf europäischen Ländern bis Anfang Mai vergangenen Jahres etwa 3,1 Millionen Todesfälle verhindert haben.
Statistiker nennt Datenlage in Deutschland "eine einzige Katastrophe"
Kauermann, der als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München arbeitet, ist dennoch überzeugt: Das Statistische Bundesamt hätte bei den veröffentlichten Daten darauf hinweisen sollen, dass keine auffällige Übersterblichkeit vorliegt.
Die Verantwortlichen der Behörde sehen das anders. Wie der "Spiegel" berichtet, hält es das Amt noch für zu früh, um die Frage nach einer Übersterblichkeit für das Jahr 2020 wissenschaftlich fundiert zu beantworten. Man warte noch auf die endgültigen Zahlen der Bevölkerungsstatistik, also zum Beispiel die Sterbefälle des Jahres 2020 sortiert nach Altersjahren. Diese würden erst Mitte 2021 vorliegen.
Tatsächlich kritisiert Kauermann im Gespräch mit der "Welt" nicht nur das Statistische Bundesamt. Auch am RKI, das zu einer der wichtigsten deutschen Corona-Instanzen geworden ist, lässt er kein gutes Haar. "Für uns ist es erschreckend zu sehen, dass die Datenqualität in Deutschland noch immer eine einzige Katastrophe ist", sagt er im Gespräch mit dem Blatt. Dass die Infektionskurve unter alten Menschen trotz Lockdown "nach oben schoss", sei nur ersichtlich geworden, weil Statistiker die Daten des RKI neu aufbereitet hätten.
"Das war profan. Hätte das RKI die Daten richtig visualisiert, dann wäre gleich klar gewesen, was wirklich in Deutschland geschieht", moniert Kauermann.
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Kauermann rügt RKI: "Bin skeptisch, ob wir zu aussagekräftigen Analysen kommen"
Der Experte geht zudem darauf ein, warum es im Corona-Jahr 2020 weniger Todesfälle unter den 35- bis 59-Jährigen gab als in den Vorjahren. "In dieser Altersgruppe sind die häufigsten Todesursachen Unfälle. Im Coronajahr sind wir weniger gereist, trieben weniger riskanten Sport, weniger Menschen starben im Straßenverkehr", sagt er. Auch hier verweist er auf das mangelhafte Datenmanagement des RKI. Denn Fakt ist: Immer wieder gibt es auch Berichte von jungen Menschen, die an oder mit Covid-19 sterben.
Laut Kauermann würden mit Blick auf Intensivpatienten keine Altersangaben veröffentlicht. "Das Gleiche gilt für die Mutanten. Oder das Testgeschehen. Angesichts der Datenqualität des Robert-Koch-Instituts (RKI) bin ich eher skeptisch, ob wir irgendwann zu aussagekräftigen Analysen kommen", sagt er. Neu ist die Kritik am Daten-Handling des RKI nicht. Auch der Statistiker Gerd Antes bemängelte das Vorgehen der Behörde im Interview mit dem "Deutschlandfunk".
Statistik-Kollege moniert: "Sind immer noch im Blindflug unterwegs"
"Wir sind immer noch im Blindflug unterwegs", sagte er Anfang Januar und forderte eine differenzierte Datenerhebung bei der Ermittlung von Corona-Infektionen, beispielsweise in Bezug auf Schulen oder Restaurants. Er erklärte: "Dort entschlossen ranzugehen, die Zahlen transparent, zeitnah zur Verfügung zu stellen, dazu ist es nie zu spät. Aber ich sehe auch jetzt, in der jetzigen Situation immer noch nicht die wirkliche Bereitschaft, das zu machen."
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