Warten auf die Psychotherapie: Fünf Möglichkeiten, die Wartezeit zu überbrücken

20 Wochen: So lange wartet man im Durchschnitt auf einen Platz bei einem Psychotherapeuten. 20 Wochen sind zu lang, wenn man leidet. Krankhafte Angst, eine Sucht oder eine Depression klingen nicht einfach so von selbst wieder ab wie eine Erkältung oder ein Magen-Darm-Infekt. Im Gegenteil: Seelische Erkrankungen werden mit der Zeit oft schlimmer und mitunter chronisch.

Zudem richtet eine seelische Erkrankung, je länger sie besteht, immer mehr Schaden an, und zwar in nahezu jedem Lebensbereich:

  • Oft kann der Betroffene seinem Beruf nicht mehr oder nicht mehr wie gewohnt nachgehen.
  • Häufig ruft seelische Not auch körperliche Beschwerden hervor und/oder bewirkt, dass der Betroffene seine Gesundheit vernachlässigt.
  • Meist belastet die psychische Erkrankung auch den Lebenspartner, die Familie und die engsten Freunde des Betroffenen.
  • Nicht selten führt das psychische Problem auch zu Streit mit vertrauten Personen. Im schlimmsten Fall gehen diese Konflikte so weit, dass der Betroffene seinen sozialen Rückhalt verliert.

All das kann wiederum zur Folge haben, dass sich das Leid des Betroffenen noch vergrößert – ein Teufelskreis, den es unbedingt zu vermeiden gilt. Die Frage ist: Wie? Was können psychisch kranke Menschen tun, um trotz Wartezeit möglichst schnell seelische Hilfe zu bekommen? Und wie hilfreich sind verfügbare alternative Hilfsangebote?

Möglichkeit 1: Akutbehandlung

Im April 2017 trat eine geänderte Psychotherapie-Richtlinie in Kraft. Sie sollte dafür sorgen, dass psychisch Kranke schneller professionelle Hilfe bekommen – etwa in Form der sogenannten Akutbehandlung: Wer in einer schweren seelischen Krise steckt, hat Anspruch auf 12 bis 24 Therapiestunden.

Einen Termin für die erste Sitzung der Akutbehandlung können Patient und Therapeut direkt in der sogenannten psychotherapeutischen Sprechstunde vereinbaren, also im Erstgespräch. Anders als bei einer regulären Therapie sind vor Beginn der Akutbehandlung keine Probesitzungen notwendig.

Auch muss diese nicht zuerst von der Krankenkasse genehmigt werden. Der Therapeut muss der Kasse nur schriftlich mitteilen, welche Erkrankung er beim Patienten festgestellt hat und wann die Akutbehandlung beginnt.

Eine dauerhafte Linderung oder gar Heilung der psychischen Beschwerden darf man sich von einer Akutbehandlung nicht erhoffen. Gerade im Falle einer schweren psychischen Erkrankung reicht die kurze Zeit in der Regel nicht aus, um den Ursachen des Problems auf den Grund zu gehen und wirksame Lösungsstrategien zu erarbeiten.

Dazu ist die Akutbehandlung auch nicht gedacht. Sie soll in erster Linie …

  • verhindern, dass die Erkrankung schlimmer oder chronisch wird und
  • bewirken, dass sich der Zustand des Betroffenen stabilisiert.

Möglichkeit 2: Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung

Normalerweise bezahlt die gesetzliche Krankenkasse eine Psychotherapie nur, wenn der Therapeut eine Kassenzulassung hat. Wer sich in einer Privatpraxis behandeln lässt, muss die Therapie aus eigener Tasche bezahlen.

Von dieser Regel gibt es jedoch eine Ausnahme: Wenn der Betroffene nachweisen kann, dass

  • er dringend eine Psychotherapie benötigt und
  • in seiner Umgebung kein zugelassener Therapeut freie Therapieplätze anbieten kann,

muss die Kasse auch eine Behandlung in einer Privatpraxis bezahlen.

Diese Pflicht ergibt sich aus § 13 Absatz 3 des Sozialgesetzbuches. Dort heißt es: "Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen (…) und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war."

Theoretisch bietet dieses sogenannte "Kostenerstattungsverfahren" Patienten die Möglichkeit, schneller Hilfe zu bekommen. Leider scheint das in der Praxis nicht (mehr) so einfach zu funktionieren. Das zeigte sich in einer Umfrage der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV).

Die DPtV befragte im vergangenen Jahr mehr als 400 privat praktizierende Psychotherapeuten, wie sich ihre Arbeitssituation durch die Reform der Psychotherapierichtlinie verändert habe. Die Therapeuten gaben an, dass die Kostenerstattung für ihre Patienten schwieriger geworden sei. Die Krankenkassen hätten seit der Reform mehr Erstattungsanträge abgelehnt als früher, meist mit Verweis auf

  • die neue psychotherapeutische Sprechstunde
  • die Terminservicestellen der kassenärztlichen Vereinigungen und/oder
  • die Möglichkeit einer Akutbehandlung.

Für Menschen, die dringend eine Therapie benötigen, ist dieser Verweis nicht hilfreich:

  • In der psychotherapeutischen Sprechstunde erhalten sie schließlich noch keine Behandlung. Der Therapeut teilt ihnen allenfalls mit, welche Art von Therapie für sie geeignet sein könnte. Wo sie diese dann beginnen können, wissen sie dann aber noch immer nicht.
  • Über die Terminservicestellen erhalten die Betroffenen nur wieder einen Termin für ein (weiteres) Erstgespräch. Ob der Therapeut, zu dem sie dann geschickt werden, auch tatsächlich einen Platz frei hat, wissen die Mitarbeiter der Terminservicestellen in der Regel nicht.
  • Eine Akutbehandlung ist eine Erste-Hilfe-Maßnahme für die Psyche. Danach benötigen die Betroffenen weiterhin eine Therapie – und zwar oft dringend.

Was tun? Der Weg der Kostenerstattung ist zwar schwieriger geworden, bleibt aber weiterhin möglich. Die besten Chancen hat laut der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), wer wie folgt vorgeht:

  • Lassen Sie sich in der psychotherapeutischen Sprechstunde bescheinigen, dass eine "Richtlinienpsychotherapie" notwendig und unaufschiebbar ist.
  • Fragen Sie bei mindestens drei bis fünf zugelassenen Psychotherapeuten nach einem freien Therapieplatz. Führen Sie dabei Protokoll: Notieren Sie dabei den Name des Therapeuten, den Tag und die Uhrzeit Ihrer Anfrage, sowie die angegebene Wartezeit.
  • Achten Sie bei der Suche nach einem (privaten) Psychotherapeuten darauf, dass dieser eines der Richtlinienverfahren anwendet. Bitten Sie ihn, Ihnen schriftlich zu bescheinigen, dass er die Behandlung kurzfristig übernehmen kann.
  • Stellen Sie bei Ihrer Krankenkasse einen Antrag auf ambulante Psychotherapie und Kostenerstattung nach § 13 Absatz 3 SGB V. Fügen Sie dem Antrag die genannten Dokumente bei.

Möglichkeit 3: Beratungsstellen

In vielen Städten und Gemeinden gibt es Beratungsstellen, die bei seelischen Problemen zeitnahe, kostenlose und meist auch anonyme Hilfe anbieten.

Die Mitarbeiter sind in der Regel Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und Psychologen, haben aber in der Regel keine psychotherapeutische Ausbildung. Sie können den Betroffenen also keine Therapie anbieten. Dafür können sie ihnen etwa dabei helfen,

  • praktische Lösungen für Probleme zu finden, die ihr Befinden zusätzlich beeinträchtigen,
  • äußere Umstände zu ändern, die ihre Erkrankung ausgelöst haben, begünstigen und/oder verschlimmern,
  • traumatische Erfahrungen zu verarbeiten, die die Erkrankung (mit-)verursacht haben und
  • weiterführende Hilfsangebote zu finden.

Das Beratungsangebot ist von Ort zu Ort verschieden. In den meisten größeren Städten gibt es mehrere Beratungsstellen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, wie zum Beispiel

  • Suchtberatungsstellen,
  • Familien- und Eheberatung,
  • Seniorenberatung,
  • Kinder- und Jugendberatung sowie
  • Beratung für Opfer von Gewaltverbrechen.

Darüber hinaus gibt es die sozialpsychiatrischen Dienste, die allgemein für Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörige gedacht sind.

Die Telefonnummern, Adressen und Öffnungszeiten der örtlichen Beratungsstellen findet man in der Regel im Internet, etwa auf der Website der Stadt. Wer im Internet nicht fündig wird, kann auch telefonisch bei der Stadtverwaltung nachfragen, welche psychologischen Beratungsangebote zur Verfügung stehen.

Möglichkeit 4: Selbsthilfegruppen

In Selbsthilfegruppen kommen Menschen zusammen, die mit der gleichen Erkrankung oder einem ähnlichen seelischen Problem zu kämpfen haben. Bei den meist wöchentlich stattfindenden Treffen tauschen sich die Betroffenen über alles aus, was mit ihrer Erkrankung zusammenhängt. Die Gespräche können zum einen bewirken, dass sich die Betroffenen verstanden, gestärkt und unterstützt fühlen.

Zum anderen können sich aus dem Austausch neue Erkenntnisse ergeben, die den Mitgliedern im Umgang mit ihrer Erkrankung weiterhelfen. Denn anders als es in Filmen häufig vermittelt wird, geht es bei den Treffen nicht darum, gemeinsam zu jammern. Vielmehr drehen sich die Gespräche häufig um folgende Fragestellungen:

  • Zu welchen Problemen führt die Erkrankung im Alltag, in Beziehungen und im Job? Welche Möglichkeiten gibt es, mit diesen Problemen umzugehen?
  • Welche Strategien hat jeder einzelne im Umgang mit seiner Erkrankung gefunden? Sind diese sinnvoll? Wenn ja: Könnte es auch für andere Gruppenmitglieder hilfreich sein, diese Bewältigungsstrategien auszuprobieren?

Selbsthilfegruppen gibt es in fast allen Städten und Gemeinden Deutschlands. Allerdings gibt es nicht überall für jedes Problem eine passende Gruppe. In diesem Fall kann es nötig sein, die Suche auf die nächstgrößere Stadt auszuweiten.

Bei der Vermittlung einer geeigneten Gruppe hilft zum Beispiel die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS), entweder über die Suchfunktion auf der Website oder per Telefon unter +49 (0)30 31 01 89 60.

Möglichkeit 5: Online-Therapie

Psychische Erkrankungen per Internet therapieren? Klingt absurd, ist aber möglich. Allein für Depressionen wurden in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Apps und Online-Angeboten entwickelt, die die Behandlung ergänzen, unterstützen oder sogar ersetzen sollen. Bekannte Beispiele sind etwa

  • der kostenpflichtige Online-Kurs Selfapy,
  • das Online-Selbsthilfeprogramm Moodgym der AOK sowie
  • der Depressionscoach von der Techniker Krankenkasse (TK).

Diese und viele andere Angebote fußen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Auch haben Studien ergeben, dass Online-Therapien bei bestimmten psychischen Problemen tatsächlich wirksam helfen können. Der Depressionscoach beispielsweise hat sich in einer Untersuchung der Freien Universität Berlin bewährt: als wirksames Behandlungsverfahren bei leichten bis mittelgradigen Depressionen.

Die Befürworter heben zudem hervor, dass die Programme gegenüber der klassischen Therapie eine Reihe von Vorzügen haben:

  • Es gibt keine Wartezeiten.
  • Wer Hemmungen hat, einen Therapeuten aufzusuchen, dem fällt es vielleicht leichter, die Therapie auf virtueller Basis zu beginnen.
  • Die Angebote sind von überall aus und jederzeit nutzbar.

Dennoch ist unter Psychotherapeuten, Ärzten und anderen Fachleuten umstritten, inwieweit sich die Online-Angebote tatsächlich zur Behandlung psychischer Störungen eignen. Kritiker befürchten unter anderem Probleme beim Datenschutz (vor allem, wenn die Therapie via Skype oder Emails stattfindet).

Auch bemängeln sie, dass es in einer virtuellen Therapie nicht möglich ist, die nonverbalen Signale des Patienten zu deuten und zu berücksichtigen. Die Mimik und Körpersprache verrät viel über das Befinden eines Menschen. Fällt diese Ebene der Kommunikation weg, gehen auch wichtige Informationen über den psychischen Zustand des Erkrankten verloren.

Daher sei es wichtig, dass Patienten ihre Beschwerden immer zuerst im Gespräch mit einem Psychotherapeut abklären lassen, stellt die Bundespsychotherapeutenkammer in einem Grundsatzpapier zum Thema "Internet in der Psychotherapie" klar.

Wer sich anschließend dazu entschließt, ein Online-Programm zu nutzen, sollte dies vorher mit dem Therapeuten besprechen und das Programm zunächst kritisch überprüfen. Welche Punkte es dabei zu beachten gilt, hat die BPtK in einer Checkliste für Patienten zusammengefasst.

Wichtig: Grundsätzlich ungeeignet ist eine Online-Therapie bei

  • Psychosen,
  • schweren psychischen Krisen,
  • schweren Depressionen und
  • Suizidgedanken.

Quellen:

Online-Informationen des Psychotherapie-Informationsdienstes (PID) der Deutschen Psychologen Akademie des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP): www.psychotherapiesuche.de (Abrufdatum: 5.6.2019)

Online-Informationen der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK): www.bptk.de (Abrufdatum: 5.6.2019)

Online-Informationen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung: www.kvb.de (Abrufdatum: 5.6.2019)

DPtV-Umfrage "Kostenerstattung" 2017/2018: Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse. Online-Informationen der Bundespsychotherapeutenvereinigung (DPtV): www.bundespsychotherapeutenvereinigung.de (Stand: 20.2.2018)

Psycho­therapie: Neue Ansprüche für gesetzliche Kranken­versicherte. Online-Informationen der Stiftung Warentest: www.test.de (Stand: 14.11.2017)

Bühring, P.: Onlineinterventionen in der Psychotherapie: Die Akzeptanz steigt. Deutsches Ärzteblatt PP, Jg. 16, Nr. 7, S. 303-304 (Juli 2017)

Bühring, P.: Der "Depressionscoach" wirkt. Deutsches Ärzteblatt PP, Jg. 16, Nr. 7, S. 305 (Juli 2017)

Dohrenbusch, R.: Psychotherapie. Chancen erkennen und mitgestalten. Verbraucherzentrale NRW, Düsseldorf 2017

Pressemitteilung der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK): Behandlung in Privatpraxen weiterhin möglich – BPtK: Psychisch Kranke haben wie bisher Anspruch auf Kostenerstattung, Stand: 22.5.2017

05.06.2019

28.01.2019

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