Zwei Lehrerinnen packen aus: "Wir werden beschimpft, bedroht, bespuckt"

Zwei Lehrerinnen berichten, warum die Inklusion in Deutschland nicht richtig funktioniert. Lisa Schiller* (*Name von der Red. Geändert), 52, ist Sonderpädagogin an einer Grundschule in Westfalen. Kerstin Ruthenschröer, 41 Jahre, ist Grundschullehrerin. Beide sind engagiert im Verband Bildung und Erziehung, VBE und sind als Beraterinnen mit vielen Problemen der Inklusion konfrontiert.

Frau Schiller, vor zehn Jahren trat Deutschland der UN-Behindertenrechtskonvention bei. Damit haben wir uns verpflichtet, behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten. Was ist falsch an diesem Ziel?

Lisa Schiller: Nichts! Ich finde das Ziel absolut richtig und ich glaube, ganz viele Lehrerinnen und Lehrer sehen das genauso. Aber der Weg, den wir zumindest hier in NRW gehen, ist kein guter. Die damalige rot-grüne Landesregierung hat die Inklusion mit der Brechstange eingeführt. Förderschulen wurden geschlossen, die Kinder auf die Regelschulen verteilt, ohne dass sie darauf vorbereitet waren. Das fängt bei so scheinbar einfachen Dingen wie der Barrierefreiheit für die Rollis an, die nicht gegeben war.

Sie selbst sind Sonderschullehrerin und haben lange an Förderschulen behinderte Kinder unterrichtet. Was brauchen die, um sich gut zu entwickeln?

Schiller: Ich hatte immer den Traum, Kindern, die es nicht so leicht haben mit dem Lernen, zu helfen. Diese Kinder bekommen ständig gespiegelt: ‘Ich kann’s nicht so gut wie die anderen’, ‘Ich bin niemals der oder die Erste’. Darunter leiden sie. Als ich an der Uni Sonderpädagogik studierte, habe ich mich auf Lernbehinderten- und Hörgeschädigtenpädagogik spezialisiert. Was alle diese Kinder brauchen, sind eine enge Bindung, viel Zeit und ein intensiver Kontakt.

Konnten Sie Ihren Traum im Alltag umsetzen?

Schiller: Ich habe an einer Schule für Hörgeschädigte unterrichtet, da waren die Bedingungen nahezu ideal. Sehr kleine Gruppen mit acht bis zwölf Kindern, dank gut isolierter Decken und Teppichböden war es zudem leise. Doch natürlich blieben die Kinder unter sich, sie waren nicht integriert, hatten wenig Kontakt zu anderen Kindern.

Wie sehen Sie die  Situation heute?

Schiller: LehrerInnen berichten mir, dass sie in Klassen mit 27 Kindern unterrichten, davon haben 9 Kinder einen Förderbedarf, sind also lernbehindert, geistig behindert oder emotional-sozial auffällig. Aggressiv, laut, bindungsunfähig die einen, sehr zurückhaltend und auf Hilfe angewiesen die anderen. Oft bin ich auch in meiner Klasse selbst erschrocken, weil ich merke: du redest viel zu schnell, hast ein zu hohes Tempo, du bist gar keine richtige Sonderpädagogin mehr.

Warum können Sie sich nicht mehr Zeit lassen?

Schiller: Das Hauptproblem ist, dass wir zu wenig Personal haben. Wir Sonderpädagogen sind oft wie Handlungsreisende unterwegs.   Einige wenige Kolleginnen unterrichten noch an ihren alten Förderschulen und  werden immer mehr an Grundschulen abgeordnet oder dorthin versetzt. Es gibt auch Sonderpädagogen, die allein für alle Kinder mit Förderbedarf an einer Grundschule zuständig sind. Die Kinder, die doch so dringend Zeit und engen Kontakt brauchen, sehen sie vielleicht eine Stunde pro Woche.

Kerstin Ruthenschröer: Ich berate für den Verband Bildung und Erziehung viele Kollegen und die berichten übereinstimmend, dass ihnen die emotional-sozial auffälligen Kinder am meisten zu schaffen machen. Wir wissen natürlich alle, dass es gute Gründe gibt, warum diese Kinder ausrasten, warum sie wütend werden oder um sich schlagen. Sie kommen häufig aus schwierigen Familienverhältnissen, sind traumatisiert. Dem muss man gerecht werden. In den ehemaligen Förderschulen für diese Kinder gab es doppelt besetzte Teams aus Lehrern und Therapeuten oder Sozialpädagogen, da konnten sie separat gefördert werden. Die Gruppengrößen sind mit den Klassenstärken in den Grundschulen nicht vergleichbar. Aber an den Regelschulen stehen die Kolleginnen in der Regel allein vor der Klasse. Und die haben dann mit Kindern zu tun, die sie beschimpfen, bespucken, mit Stühlen nach ihnen werfen, über Tische rennen. Ein Junge rammte seinen Kopf in den Bauch einer schwangeren Kollegin. Ein anderer stach mit seinen Fingern in die Augen eines Mitschülers. Zigaretten, Drogen, auch damit sind wir in der Grundschule schon konfrontiert.

Was macht man da?

Ruthenschröer: Zunächst die Schüler und auch sich schützen. Ich schicke dann zwei Schüler ins Sekretariat, das hoffentlich besetzt ist, und lasse Hilfe holen. Oder in eine Nachbarklasse, von der ich weiß, dass sie für einen kurzen Moment alleine arbeiten kann, so dass mich die Lehrerin der Klasse unterstützten kann. Meist hilft es ja schon, ein Kind, das ausrastet, aus der Situation herauszunehmen, ihm Ruhe zu geben. Wichtig ist, dass diese Kinder unter Aufsicht bleiben, damit sie sich selbst und andere nicht verletzen oder gar abhauen. Aber da wir allein unterrichten, ist das nicht so einfach und manchmal nicht umsetzbar.

Schiller: Wir hatten einen extremen Fall, ein Junge, der mit einem Messer in die Schule kam und Mitschüler bedroht hat. Er ist verschwunden. Dann rufe ich die Polizei. Die bringt ihn dann nach Hause.

Wie kommt man als Lehrer mit einer solchen Situation klar?

Schiller: Ich habe ja schon viele Jahre Erfahrung und kann das teilweise recht gut kompensieren, ich weiß, wie ich Hilfe organisiere oder eine Situation beruhige. Aber es gab auch bei mir einen Punkt, da habe ich mich innerlich verweigert und gesagt: In diese Klasse gehe ich nicht mehr rein, da unterrichte ich nicht mehr.

Ruthenschröer: Vor allem für die jungen Kollegen, ist das sehr belastend. Und selbst bei sehr erfahrenen Lehrern geschieht etwas, was eigentlich nicht geschehen darf. Sie verlieren die Kontrolle, schreien die Kinder an oder werden in Ausnahmefällen übergriffig. Das ist manchmal reine Notwehr. Aber natürlich ist das falsch. Das wissen die Kollegen auch. Sie sind verzweifelt.

Es gibt Gelder, um Integrationshelfer zu finanzieren. Schaffen die keine Entlastung?

Schiller: Ja, für Kinder, die nicht allein durch den Unterricht kommen, gibt es die Möglichkeit, ihnen jemand an die Seite zu stellen. Doch es ist nicht einfach, diese Hilfe zu bekommen. Die Anträge dafür sind sehr aufwendig, da müssen medizinische, psychiatrische, soziale Gutachten eingeholt werden. Das dauert schon mal ein Jahr. Und selbst bei extrem auffälligen Kindern kommt es vor, dass der Antrag abgelehnt wird. Und alle sechs Monate muss er neu überprüft werden, selbst bei geistig behinderten Kindern, wo keine grundsätzlichen Veränderungen zu erwarten sind.

Ist die Inklusion in Deutschland gescheitert?

Ruthenschröer: Nein, aber sie befindet sich im Stillstand.

Schiller: Sagen wir so: Dass sie nicht gescheitert ist, liegt am Engagement der Kolleginnen, die von der Richtigkeit der Inklusion überzeugt sind. Aber uns fehlt eine Perspektive. Die Schulen werden allein gelassen. Niemand ist bereit, das dafür nötige Geld in die Hand zu nehmen. Wir hören von manchen unserer Förderkinder, dass sie auf der weiterführenden Schule nicht klarkommen und schließlich wieder auf die Sonderschule gehen. Die machen dort ja auch gute Sachen. Aber integriert sind die Kinder dann nicht. Sie bleiben unter sich.

Wir haben bislang nur von Problemen gesprochen. Gibt es auch Erfolgserlebnisse?

Schiller: Ja, auf jeden Fall! Die Leistungen der schwächeren Kinder sind besser als auf der Förderschule, sie lernen mehr und profitieren vom gemeinsamen Unterricht. Und die fitten Kinder machen ebenfalls wichtige Erfahrungen: Toleranz zum Beispiel, Rücksichtnahme, ihre Sprachkompetenz wird gefördert, weil wir sie bitten, den schwachen Kindern zu helfen und etwa eine Matheaufgabe zu erklären. Und es ist ganz selbstverständlich, dass man den Rollifahrern die Tür aufhält und sie schiebt. Auch die soziale Anerkennung ist wichtig. Wir hatten einen lernbehinderten Jungen, der konnte in der vierten Klasse nur mit Mühe bis zehn rechnen. Aber er war ein super Fußballer, hatte ein angenehmes Wesen, die Kinder mochten ihn und er wurde immer als erster in die Mannschaften gewählt. Das möchte jedes Kind einmal erleben: Erster sein.

Was braucht es, damit behinderte und nicht-behinderte Menschen unkompliziert miteinander lernen und leben?

Schiller: Lange bevor die Inklusion offizielles politisches Ziel wurde, durfte ich den gemeinsamen Unterricht mit einer Grundschulkollegin gestalten. Wie an vielen anderen Grundschulen unterrichteten eine Grundschul- und eine Sonderschullehrerin gemeinsam eine Klasse mit  24 Kindern, etwa vier bis sechs davon hatten einen Förderbedarf. Wir waren fast immer zu zweit, haben den Unterricht gemeinsam vorbereitet und für die Kinder ganz unterschiedliche Aufgabenstellungen entwickelt, je nach Leistungsniveau.

Haben sich die Einserkandidaten da nicht gelangweilt?

Schiller: Nein,  wir haben ihnen schwierigere Aufgaben gegeben und sie gefordert. Das lief super. Wenn Inklusion erfolgreich sein soll, dann muss es auch genügend leistungsstarke Kinder in einer Klasse geben.  Und bei manchem Kinder mit Förderbedarf haben wir damals auch gesagt: Nein, der packt das nicht an der Regelschule, der kann sich an der Sonderschule besser entwickeln. Heute entscheiden allein die Eltern. Und es ist beinahe verpönt zu sagen, dass ein Kind womöglich nicht so gut aufgehoben ist in einer Regelschule. Das ganze Klima ist ideologischer als früher, weniger pragmatisch.

 

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